Den Tod vor Augen - Numbers 2
Gesicht. Und da ist noch eins. Sarahs Gesicht, panisch, und ihr Körper, der sich im Wagen windet, um von mir wegzukommen.
SARAH
Ich komme mit den Spraydosen nicht zurecht. Es ist zu fremd, nicht mein Ding, aber sobald ich ein paar Pinsel habe, bin ich plötzlich auf und davon. Ich dachte, Vinny ist verrückt, doch das Malen hat was. Jeder Strich, den mein Arm ausführt, befreit mich. Es ist, als ob ich den Albtraum abstreifen könnte und er womöglich dort bliebe. Außerhalb von mir.
Ich stehe in einer Unterführung, wo die Straße die Bahngleise unterquert. Autos benutzen sie fast nie, aber es gibt ein paar Fußgänger, die aus der Siedlung durch die Unterführung zur High Street gehen. Wie auch immer, jedenfalls kann ich hier den Tag über malen. Es ist erstaunlich – die Leute schauen im Vorbeigehen, aber niemand hat je versucht, mich dran zu hindern. Vielleicht denken sie ja, weil es so groß ist, muss es was Offizielles sein. Oder vielleicht sehen sie auch nur, dass es besser wird als eine leere Wand.
Ich komme her, wann immer ich kann, sogar am 1. Weihnachtstag. Es ist ein merkwürdiges Weihnachten. Kein Schmuck, kein Baum, aber immerhin gibt es Geschenke. Als ich morgens nach unten komme, liegt eine kleine Plastiktüte auf dem Küchentisch. Darin sind eine Schachtel Pralinen für mich und eine kleine Wollmütze für Mia, zusammen mit einem Zettel, auf dem steht: »Frohe Weihnachten von Vin xx«.
Ich schäme mich, weil ich nichts für ihn besorgt und auch gar kein Geld habe, deshalb mache ich ihm einen Becher Tee und ein bisschen Toast und trag es in sein Zimmer. Frühstück im Bett, das ist doch was, oder? Er schläft tief und fest. Ich möchte ihn am liebsten wecken, damit er sieht, was ich für ihn gemacht habe, aber ich traue mich nicht, deshalb stelle ich Becher und Teller neben seine Matratze.
Ich nehme Mia mit. Sie liegt in dem alten Kinderwagen, den Vinny aus einem Müllcontainer gefischt hat. Ich lasse sie nicht zu Hause, nie. Nicht, dass mich jemand falsch versteht, es sind alles nette Jungs und sie würden ihr nie etwas antun, aber nichtsdestotrotz bleiben sie Junkies. Ich verurteile sie nicht – verdammt, wer gäbe mir das Recht dazu? Es geht nur darum, dass Mia so kostbar ist. Ich kann bei ihr kein Risiko eingehen.
Also male ich immer so lange, wie sie mich lässt, manchmal zwei oder drei Stunden am Stück. Langsam fügt sich alles zusammen und es gefällt mir. Ich vergesse fast, worum es bei dem Ganzen geht, und verliere mich im rein Körperlichen des Malens, in der Aufgabe, etwas zu schaffen. Dann, wenn ich zurücktrete und draufschaue, bin ich jedes Mal überrascht. Über die Gewalt darin, das Chaos, den Horror. Es kommt aus mir, ist ein Teil von mir.
Erst als ich Adam male, wird es emotional. Er ist so unverkennbar: Ich fühle mich, als würde ich ihn an den Pranger stellen. Ich verliere den Mut. Darf ich reale Menschen auf die Wand malen? Ist das richtig? Aber dann denke ich, ich muss mir treu bleiben. Das hier ist nicht bloß ein Traum, es ist kein Fantasieprodukt, es ist real. Ich warne Menschen. Deshalb male ich Adam, genau so, wie ich ihn gesehen habe – mit seinen wunderschönen Augen, die von Flammen erfüllt sind, und dem vernarbten Gesicht. Und ich male Mia und ich male das Datum.
Und plötzlich ist es fertig. Es ist riesig, man kann das Ganze überhaupt nicht mit einem Blick erfassen. Du musst dran entlanglaufen und es Stück für Stück in dich aufnehmen. Doch es ist da. Das Ganze, mit dem ich so lange gelebt habe. Jetzt ist es heraus. Ich hab es gemalt.
Ich gehe auf und ab und schau es an. Es gibt Teile, die ich gern verändern würde, Dinge, die ich besser hinkriegen könnte, aber ich werde jetzt nicht anfangen, dran rumzuflicken. Es wird langsam dunkel. Ich drücke Mia fester an mich.
»Lass uns nach Hause gehen, Mia. Lass uns ein bisschen schlafen.«
ADAM
Ich liege stundenlang auf meinem Bett. Wenn ich in den Schlaf gleite, verwandeln sich meine Gedanken in so schlimme Albträume, dass ich mich wachrütteln muss. Ich weiß nicht, wo ich bin. Das Fenster ist auf der falschen Seite, der Nachttisch hat die falsche Höhe. Das ist nicht Weston. Verdammt, wo bin ich? Wo ist Mum?
Die Wirklichkeit kriecht in meinen Kopf zurück, aber sie bringt keine Erleichterung. Denn außer dem Feuer, dem Kampf, Junior und Sarah ist da noch etwas anderes. 01012028. Ich bin wieder einen Tag näher dran. Die Zeit schwindet. Wenn ich etwas dagegen tun will, muss es bald geschehen,
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