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Deniz, die Lokomotive

Deniz, die Lokomotive

Titel: Deniz, die Lokomotive Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Masannek
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liegen, selbst die Sporttasche und meine Motorradjacke nahm ich nicht mit. In Fußballschuhen und im Wilde Kerle -Trikot schlüpfte ich durch eine Lücke im Zaun, der den Bolzplatz umgab, und rannte davon.
    Auf dem Marktplatz traf ich den Dicken Michi und seine Unbesiegbaren Sieger . Sie hatten ihre Arbeit in den Blumenbeeten beendet und dösten dumpf und träge vor sich hin wie Alligatoren im Sumpf. Doch als ich angerannt kam, öffneten sie ihre Augen.
    „Na, was hab ich gesagt?“, rasselte der Dicke Michi. „Diese Bastarde sind einfach die Pest. Die Wilden Kerle kleben sich wie Kaugummi und Hundemist an deine Füße!“
    Und tatsächlich trat ich in diesem Moment in einen Haufen hinein. Der monumentale Chinese lachte sich tot, und er lachte noch immer, als ich längst in der Tram davonfuhr.
    Zu Hause in Freimann wusste ich plötzlich nicht mehr, wohin ich gehen sollte. Was hatte ich im Carl-Orff-Bogen Nummer 9 noch verloren? Ich war aus der Mannschaft der Wilden Kerle geflogen. Das war doch klar. Auch wenn ich diesmal weggerannt war. Ich hatte nur nicht auf ihre Entscheidung gewartet. Sicher waren sie schon zu Fabi und Leon gelaufen, und sicher baten sie die beiden darum, wieder bei ihnen zu spielen. Über mich würden sie einfach nur lachen. Ein paar Wochen lang würden sie das: „Den-ha-heniz, der blinde Türke! Kannst du dich an den noch erinnern?“
    „Heiliger Muckefuck! Selbst Raban und Joschka sind besser als der.“
    Ja, so würden sie spotten, und irgendwann würden sie mich vergessen. Und auch für meine Eltern würde ich unwichtig werden. Das hatte mein Vater ja gesagt: Dann ist Fußball für dich aus und vorbei! Und für ihn und meine Mutter ist der Fußball ihrer Kinder das Wichtigste auf der Welt.
    Also, was sollte ich jetzt noch zu Hause? Kann mir das einer von euch vielleicht sagen? Meint ihr, mein Vater fände es gut, wenn ich ab sofort Minigolf spielte? Dreibeiniger Ochsenfrosch! Das ist doch nicht euer Ernst. Ja, und aus diesem Grund ging ich an der Nummer 9 des Carl-Orff-Bogens vorbei, nahm den Haustürschlüssel vom Hals, warf ihn mit geschlossenen Augen ganz weit weg, lief auf den Kinderspielplatz und versteckte mich dort unter der Rutsche. Verflixt, war das eng! Das letzte Mal, dass ich mich hier verkrochen hatte, ist schon mehr als vier Jahre her. Und damals war ich erst fünf.

Die Coca-Cola-Glas-Brille
    Gegen sieben Uhr wurde es dunkel und dann eisig und kalt. Zumindest für einen Jungen, der nur ein Fußballtrikot anhat. Um neun begann es zu regnen, und der Boden unter der Rutsche verwandelte sich in einen arktischen See. Darin hockte ich wie Obelix im Goldfischglas, und obwohl ich wusste, wie peinlich diese Situation für einen Kerl wie mich war, dachte ich gar nicht daran, etwas zu ändern. Ich schlotterte einfach. Denn Schlottern hilft, wenn man am Ertrinken ist. Wenn man sich verloren hat und nicht mehr weiß, wer man ist. Ja, dann hilft es, die Augen zu schließen und einfach zu spüren, ob noch was schlottert und wo. Denn da ist man dann. Da findet man sich dann irgendwo wieder. Es sei denn, man wird süchtig danach. Nach dem Schlottern, mein ich. Dann ist alles zu spät. Dann kann man ohne Schlottern gar nicht mehr leben, und dann heult man mit allen Pudeln, Pekinesen und Sofaschoßratten nur noch den Mond an. Dann hat man sich für immer verloren, und dann ist es auch egal, wo man sitzt.
    Dann reicht einem Obelix auch ein Goldfischglas aus, und für mich ist eine Pfütze unter der Rutsche dann der erstbeste Platz.
    Doch ganz so weit war es noch nicht. Irgendwas in mir hielt noch an dieser Welt fest, denn plötzlich öffnete ich meine Augen. Wie ein Tiger im Dschungel, der aus dem Schlaf erwacht, spähte ich in den Nebel hinaus, der mich wie immer umgab. Ich wurde nervös. Ich bekam Angst. Ich schämte mich sogar schon ein bisschen. Doch zum Aufstehen reichte diese Kraft noch nicht aus. Ja, und dann kamen sie schon. Wie Samurai, die Schwertkrieger der alten Japaner, materialisierten sie sich in den Rändern der wabernden Schleier und kamen stolz auf mich zu.
    Ich runzelte meine Stirn. Ich wusste nicht, ob ich Angst haben sollte, und eigentlich war das egal. Ich hätte sowieso nicht mehr wegrennen können. Und dann mochte ich sie. Ich mein, die Samurai. Sie sahen freundlich aus. Sie wollten mir helfen. Ja, selbst wenn es Teufel waren, aus der untersten Hölle, sie kamen nur wegen mir. Und dann zeigten sie ihre Gesichter. Als Erster trat Marlon, die Nummer 10, in den

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