Denkwürdigkeiten aus meinem Leben [microform]
Welt,
die sich damals zu gestalten anfing. Aber in der Praxis geht nur langsam, ruckweise und mit oft krebsgängigen Schritten die Umwandlung vor, die der Gelehrte oder Staatsmann in seinem Kopf schnell erzeugt, und wohl kann man die Zeit in dieser Hinsicht jenen Pilgern des Mittelalters vergleichen, die auf einer Wallfahrt stets nach 2 bis 3 Schritten vorwärts einen zurück taten; indes kamen sie doch, wiewohl langsam, weiter, und jene Rückschritte hemmten nur, aber sie hinderten die Reise nicht. So ist es auch mit der Ausbildung dieser neuen Zeit und ihrer Gesinnung; aber man ist jetzt klüger und überstürzt sich nicht wie damals.
Damals, vor 40 Jahren, war man noch nicht so weit vorgeschritten. Es gab viele, die sich dieser Neue-rungen, dieser Aufklärung, dieses Wegräumens alten Schuttes von Vorurteilen, Kastenzwang usw. als glück-licher Schritte zu einem sichern Heil erfreuten; weit mehrere indes, die sie mißbilligten, weil entweder ihr Vorteil darunter litt oder weil ihre in entgegen-gesetzten Begriffen erzogenen Geister sich über diese neuen Ansichten, als über Ketzereien, entsetzten. Mitten zwischen diesen beiden Äußersten befand sich aber eine bedeutende Anzahl von Personen, die viel-leicht eben durch ihre gemäßigtere Meinung sich als diejenigen bewiesen, die ohne Vorurteil oder Eigen-nutz, ja vielleicht von Hoffnung eben so weit als von Furcht entfernt, ein richtiges Urteil besaßen. Diese ließen zwar dem edlen Willen des Monarchen alle Ge-rechtigkeit widerfahren, sie billigten, ja sie erfreuten sich der meisten seiner Anordnungen, welche die Er-leichterung und sorgfältigere Bildung der untersten Klassen, die Abstellung alter Mißbräuche, die Ein-schränkung lästiger Vorrechte und Privilegien, end-
lieh die Gedankenfreiheit und allgemeine Duldung zum Gegenstande hatten. Aber sie konnten die rasche Hastigkeit, womit alles betrieben wurde, und die oft jenseits des Zieles schoß, sowie den Mangel an Schonung und Billigkeit bei Ausübung der strengsten Gerechtig-keit nicht gutheißen. Ebensowenig waren diese ge-mäßigten Beurteiler mit dem übereilten Aufklären der untern Volksklassen und mit dem gewaltsamen Weg-räumen so mancher Schranken und hindernden Be-griffe zufrieden, welche in dem Gewissen des Volkes dort ihre stille Macht gegründet hatten, wohin das Gesetz zu reichen nicht imstande ist.
Ich war wohl im ganzen noch zu jung, um dies alles nach meinen eigenen Ansichten zu beurteilen; aber ich hörte verständige Menschen von verschiedenen Parteien sprechen, und mein eigenes Gefühl fand sich durch manche Neuerung, die an die Stelle eines alten, liebgewordenen Gebrauchs, einer wohlbekannten Ge-wohnheit getreten war, abgestoßen, sowie durch man-ches Harte und Schonungslose in dem Verfahren des Monarchen verletzt. Ich erinnere hier nur an den — freilich nicht durchgesetzten — Befehl, die Leichen künftig ohne Sarg, in Säcken zu begraben und mit Kalk zu überschütten. Vielleicht konnte der kalte Ver-stand hierin eine zweckmäßige Verordnung finden und verteidigen; aber das Gefühl der ganzen Stadt war empört, und die Sache mußte unterbleiben, weil „meine Untertanen", wie Kaiser Josef bei Auf-hebung dieses Befehls schrieb, „länger Äser bleiben wollen!!2^^)" Ebenso unbillig schien mir die strenge Gerechtigkeit, welche, alles vor dem Gesetze nivel-lierend, einen Grafen, einen Hofrat, einen angesehenen Privatmann zu eben der Strafe des Gassenkehrens wie
den Taglöhner, den Hausknecht usw. verdamnate, deren tägliches Geschäft jenes ohnedies war, und die noch dazu von niemand vermißt, von niemand ge-kannt, als den wenigen, ebenfalls der Welt verborgenen nächsten Verwandten, ihre Schmach in ihrer Dunkel-heit begruben und daher minder fühlten ^^2).
Was aber auch immer mit Recht und Unrecht an dem Verfahren des Kaisers getadelt worden war, und wie stark sich die Unzufriedenheit darüber fast über-all in seinen Staaten zeigte, litt doch vielleicht nie-mand von all den Tausenden, die über ihn klagten, darunter so tief, so schmerzlich als er selbst. Gleich als wollte das Schicksal ihn für dieses stolze Voraus-nehmen strafen, mußte der Monarch mitten in einer ruhmvollen Laufbahn, lange vor der natürlichen Todes-zeit an einem langwierigen Siechtum dahinwelken, und noch vor seinem Ende viele seiner kühnen Pläne in sich zusammenstürzen sehen; viele seiner Verord-nungen, durch die drohenden Umstände gezwungen, selbst zurücknehmen. So trotzten die Ungarn, bei denen er
Weitere Kostenlose Bücher