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Denn am Sabbat sollst du ruhen

Denn am Sabbat sollst du ruhen

Titel: Denn am Sabbat sollst du ruhen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
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fürchten sich. Alle fürchten sich.
    Die Stimme des Vorsängers erscholl, dann herrschte wie der Stille, und schließlich war die Zeremonie zu Ende. Sechs Männer trugen die Bahre mit der Toten, Michael erkannte Gold und Rosenfeld. Er blickte auf das in ein Leichenhemd gewickelte Bündel und erschauerte, denn die Konturen des Körpers waren sichtbar.
    Der Bahre folgte die Familie. Michael sah Hillel, den Schwiegersohn, der eine junge Frau stützte, vermutlich die Tochter. An der anderen Seite ging ein junger Mann, dessen Verwandtschaft mit der Verstorbenen unübersehbar war.
    Hildesheimers Gesicht war jetzt zu erkennen unter dem großen Hut, der seinen kahlen Kopf bedeckte. Er ging dicht an Michael vorbei, und Michael sah die Tränen, die über seine Wangen rollten. Die Menschen begannen, der Familie zu folgen und in ihre Autos zu steigen. Zila ging hinter Hildesheimer. Viele trockneten die Augen, andere mußten gestützt werden. Der Himmel war grau, wie vor einem Regenguß, und ein eisiger Wind wehte. Von der Straße hörte man die Automotoren starten. Dina Silber kam die Treppe hinunter, gestützt von dem bärtigen Mann mit Glatze. Und dann sah er ihn zum ersten Mal: Der junge Mann stand einige Stufen unter ihm auf der anderen Seite an das Geländer gelehnt und starrte Dina Silber und ihren Begleiter an. Einen Augenblick befürchtete der Inspektor, er würde sich auf die beiden stürzen.
    Der junge Mann blickte verzweifelt und wie gehetzt um sich. Er gehörte nicht wirklich zu den anderen hier. Er ist anders, dachte Michael instinktiv. Dina verlangsamte ihre Schritte und wandte sich um, ihr Blick begegnete dem des jungen Mannes, nur für eine Sekunde, dann beschleunigte sie ihren Gang. Auch ihr Begleiter drehte den Kopf, warf einen neugierigen Blick zurück und ging dann schnell mit ihr weiter. Es war nicht klar, ob sie Michael wahrgenom men hatte, der den jungen Mann nicht aus den Augen ließ und hoffte, daß ihn einer der Pressefotografen erwischt hatte. Er nannte ihn für sich den »Jüngling«, ein Wort, das er für gewöhnlich nicht benutzte. Gleich als er ihn be merkte, hatte er das Empfinden eines bevorstehenden Unglücks. Dann dachte er, es liege etwas Gefährliches in seiner Schönheit, in der Verzweiflung, die sich in seinen Augen spiegelte.
    Auch jemandem, dem jedes Empfinden dafür fehlte, mußte die Schönheit dieses Jünglings auffallen. Unmöglich, die außergewöhnlichen Gesichtszüge unter der Kapuze des Dufflecoats und den goldblonden Locken nicht zu bemerken, unmöglich, nicht den Atem anzuhalten beim Anblick der beiden wild glühenden Augen. Seine starken Wangen knochen verliehen seinen Zügen etwas Adeliges und Vergei stigtes. Doch auch Sinnlichkeit war in diesem Gesicht, besonders in den vollen Lippen. Die erste Assoziation, die in Michaels Bewußtsein drang, war die Gestalt des Tadzio aus »Der Tod in Venedig«. Später dachte er an die griechischen Statuen, die er gesehen hatte. Der »Jüngling« konnte kaum älter als zwanzig sein. Die Polizeifotografin, die erst jetzt die Halle verließ, richtete die Kamera auf ihn und drückte den Auslöser. Man hörte ein Klick, und sie ging an dem jungen Mann vorbei, der sie nicht bemerkte. Michael folgte ihr und als er sich umwandte, sah er, daß der junge Mann sich noch nicht von seinem Platz bewegt hatte, sondern in der gleichen Haltung verharrte.
    Auf der untersten Stufe stand Rafi und sah Michael an, als ob er »Und was jetzt?« fragen wollte. Michael bat ihn, den jungen Schönen zu beschatten, der oben stehe, und ihm dicht auf den Fersen zu bleiben. Rafi bewegte seine Hand in einer stummen Frage, und Michael murmelte: »Das weiß ich selbst noch nicht. Ich will nur wissen, wer und was er ist.« Rafi nickte, sein Gesicht war nachdenklich und konzentriert. Michael, der sich wieder umblickte, konnte sehen, wie er den Kopf senkte und langsam die Treppe hinauf in Richtung des jungen Mannes ging. Obwohl Michael Rafis Erfahrung und Begabung kannte, hielt er den Atem an wie ein Jäger, der seinem Kameraden zusieht und befürchtet, er könne Lärm machen und den Vogel verscheuchen. Er erwog die Möglichkeit, den jungen Mann selbst zu beschatten, ließ den Gedanken aber sofort wieder fallen. Er konnte unmöglich überall zugleich sein, sagte er sich und ging zum Parkplatz hinunter.
    Wen, fragte er sich, als er sich auf den Beifahrersitz setzte, verdächtigen sie? Sie nehmen doch alle an, daß jemand von ihnen in den Mord verwickelt ist. Wie reagieren sie

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