Denn bittersüß ist der Schnee - Lene Beckers dritter Fall (Lene Becker ermittelt) (German Edition)
sofort nach Nürnberg gefahren? Mit den Kindern? Seltsam.
Sie wählte die Nummer ihres Büros.
»Sandra, hat sich bei euch Rike Walther schon gemeldet? Sie war heute nicht in der Schule und die Kinder auch nicht. Nein? Sonst etwas Wichtiges? Sag mal, die Nummer von der Schule des Ehemanns – ist auf dem Zettel. Gut. Danke, Sandra. Ich melde mich später.«
Sie wühlte in ihrer Handtasche, bis sie den Zettel fand. »Darf ich?«, fragte sie in Richtung Schulleiter, der zusti mmend nickte.
»Franz-Josef-Strauß-Schule, Richter. Ja, bitte, was kann ich für Sie tun? «
»Kriminalpolizei Nürnberg, Becker. Frau Richter, ich müsste Herrn Walther sprechen. Ich bräuchte eine Auskunft von ihm.«
»Ja, aber der Herr Walther ist bereits nach Hause gefahren. Sein Unterricht war für heute schon zu Ende. Die let zte Stunde hat er frei.«
»Gut, dann versuche ich ihn dort zu erreichen. Danke. «
Sie wandte sich an Mike.
»Komm, wir fahren zu ihrer Privatadresse.« Sie verabschiedeten sich, w obei sie dem Schulleiter ihre Karte reichte. »Bitte rufen Sie mich gleich an, wenn Sie etwas von Frau Walther hören.«
Als sich die Tür des Sekretariats hinter ihnen geschlossen hatte, zog sie Mike diesmal in die andere Richtung, in die alte Hauptei ngangshalle des Klosters und des Internats. Sie kamen auf dem Flur, der den neuen Trakt mit dem alten verband, an einem Poster vorbei, vor dem Lene fasziniert stehenblieb.
»Eine Geschichte der Frauen«, erklärte sie Mike. »Wie schön. Von den Männern totgeschwiegen. Schau, ganz oben Theano, die Frau von Pythagoras, etwa 460 vor Christus. Viel jünger, ich glaube vierun dvierzig Jahre jünger als er und Mutter seiner fünf Kinder. Aber vor allem eine beeindruckende Mathematikerin, die seine Schule nach seinem Tod – stell dir vor, er ist neunundneunzig Jahre alt geworden! – fortgeführt hat. Theano«, murmelte sie fast andächtig. Sie fand die Geschichte von Pythagoras faszinierend, hatte alles über sein Leben gelesen, dessen sie habhaft werden konnte.
»Und dann hier. Schau. Hildegard von Bingen und hier Maria Ward, die Gründerin dieser Schule. Der ersten Sch ule für Mädchen. Vorher gab es nur die von den Mönchen geleiteten Schulen ausschließlich für Jungen. Mary Ward, die adlige Engländerin, die um 1620 aus England in den Wirren der Religionsverfolgung fliehen musste, weil ihre Familie am Katholizismus festhielt, hatte die Vision, von Nonnen geleitete Schulen für Mädchen einzurichten. Jahrelang ist sie vom Papst in Rom, der die Genehmigung für dieses unerhörte Ansinnen erteilen musste, abgewiesen worden. Prallte an der Wand der Männerwelt ab. Sie ist sogar zu Fuß mit zwei oder drei anderen Nonnen nach Rom gepilgert - von Lüttich in Belgien bis Rom, und das während des dreißigjährigen Krieges! Also 1624 in etwa. Und noch dazu im Herbst bei Regen und Kälte über die Alpen. Sie wollte unbedingt am Weihnachtsmorgen in Rom ankommen, und das ist ihr auch gelungen. Aber der Papst blieb hart. Sie wanderte dann wieder zu Fuß über die Alpen zurück nach Deutschland. Es hat noch Jahre gedauert, bis es ihr gelang, mit der Hilfe eines reichen Kaufmanns, der sich für ihre Vision einsetzte, den Papst mit einem Trick zu umgehen und ihre erste Schule für Mädchen in München einzurichten.«
Als sie Mikes bemühtes Gesicht sah, musste sie lachen.
»Ich weiß, mein Amerikaner, europäische Geschichte ist nicht ganz dein Lieblingsfach. Aber dafür hast du ja mich bekommen, um all diese interessanten Gedanken aufzunehmen. Schicksal! «
Auf dem Marmorfußboden in der durch Buntglasscheiben recht dunklen Eingangshalle blieb sie kurz vor dem Standbild der Maria Ward stehen. Sie bewunderte diese kühne junge Frau nicht nur, sie empfand eine Art schwe sterliche Liebe zu ihr. Du hast dich auch nie unterkriegen lassen , flüsterte sie ihr in ihren Gedanken zu. Dann nickte ihr die Nonne in ihrem kleinen Pförtnerraum zu und der vertraute Summton erklang, mit dem sich die Tür öffnete. Sie fühlte wieder den Geschmack der Freiheit auf ihrer Zunge, wie früher als Schülerin, wenn sie diese Tür nach draußen durchschritt, für einige Stunden oder ein Wochenende zu Hause, und die Sonne plötzlich so warm schien. Und hell, nach der Dunkelheit der Klosterhalle.
»Komm, ich muss dir noch die Kirche zeigen.«
Sie nahm Mike an der Hand und zog ihn zum nächsten Eingang, einer alten, oben abgerundeten Holztür, die sich knarrend öffnete, als sie den schweren Kupfergriff drückte.
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