Denn bittersüß ist der Schnee - Lene Beckers dritter Fall (Lene Becker ermittelt) (German Edition)
Stille empfing sie. Und seltsam vertraut war ihr zu Mute, als sie an den Reihen der Holzbänke entlang schritt. Sie setzten sich in die erste Bank.
»Sieh nur«, flüsterte sie, »die Madonna. Ist sie nicht einfach schön? Ihr habe ich damals all meine Sorgen und me inen Kummer erzählt.«
Mike drückte ihre Hand. Er hatte sie verstanden. Beim Hinausg ehen erzählte sie ihm leise, wie sie immer ihre Mitschülerinnen beneidet hatte, wenn sie ohnmächtig wurden.
»Sie kippten so wunderbar melodramatisch einfach um, seitwärts weg«, beschrieb sie ihm. »In jedem Gottesdienst fast. Mal die eine, am nächsten Tag eine andere. Zarte Mädchen, die während der Frühme sse vor dem Frühstück dem Hunger zusammen mit Weihrauchduft einfach nicht gewachsen waren. Lotte und ich fielen nie um.« Immer noch klang leises Bedauern in ihrer Stimme. Ihre Schwester und sie fanden das damals so herrlich dramatisch und nachahmenswert.
Sie kamen zum Maxplatz, der eigentlich Maximiliansplatz nach König M aximilian I. von Bayern heißt, auf dem der Weihnachtsmarkt aufgebaut war. Bunte Buden, Lichter, lockende Farben, Glaskugeln und viel zu essen. Lene machte ihren Touri auf die wunderbaren Barockfassaden von Balthasar Neumann aufmerksam. Dass hierin heute die Stadtverwaltung untergebracht war, interessierte ihn weniger als die kleine Geschichte von 1904 über ihre damals gerade von Amerika zurückgekehrte achtzehnjährige Großmutter Elise. Auf dem Marktplatz wollte sie zwei Pfund Tomaten kaufen – denn die hatte sie in den USA kennen und lieben gelernt.
Die Marktfrau wurde jedoch fast blass – soweit eine fränkische Marktfrau blass werden kann – und schrie laut um Hilfe bei ihren Kolleginnen, die sich sofort um ihren Tisch drängten.
»Dös Madla will Selbstmord begeh. Die will zwa pfund von denna Domatn, dabei gibt’s von denne doch nur a Viertel füa die Farbn in der Suppn. Mir wissen doch dös die giftig san! Bringt’s iha die zu Vernunft.«
Sie musste sich erst mal setzen, so hatte sie der Wunsch der Käuferin en tsetzt.
»Ja, aber Elise war hartnäckig und wollte weiterhin ihre zwei Pfund Tom aten, die sie nicht bekam, weil alle inzwischen glaubten, sie wolle sich mit dem giftigen Zeug umbringen. Da griff sie sich eine Tomate und unter dem Gekreische der Frauen biss sie hinein und strahlte sie dann triumphierend an. ›Na, lebe ich noch? Kriege ich jetzt meine Tomaten?‹ Dann erzählte sie ihnen von ihren Erfahrungen mit Tomaten in Amerika. So hat sie aktiv zur Aufklärung der fränkischen Marktfrauen beigetragen, die immer dachten, die Tomate sei wie die Kartoffel oberhalb der Erde ein giftiges Nachtschattengewächs. «
Mike lachte. »Deine Großmutter war ja schon wie du! Wenn ich daran de nke, wie du vor zwei Jahren, na schon fast drei, gerade in den USA angekommen warst, und obwohl das erste Mal dort, in mein Büro gestürmt kamst und mich gezwungen hast, quasi mit vorgehaltener Pistole…«
Jetzt lachten sie beide und er küsste sie mal eben zärtlich. Auf dem Maxplatz. Das Handy klingelte. Kalle.
»Und, hast du schon etwas erreicht? «
»Nein. «
Sie erzählte von der Auskunft in der Schule, dass weder Rike Walther noch die Kinder zur Schule gekommen waren.
»Wir wollen jetzt zum Ehemann. De r wenigstens war in der Schule. Ich habe nur so Hunger und Mike sicher auch.«
»Dann esst doch erst einmal was im Schlenkerla . Das wird Mike gefallen. Und der Lehrer macht jetzt sowieso sicher Mittagspause. Danach ist er bestimmt eher bereit zu reden. Und du bist ruhiger. Ist doch nicht leicht so ein Gespräch.«
Die Fürsorge des Freundes tat ihr gut. So war Kalle immer. Passte auf sie und ihre durch Arbeitswut normalerweise unvernünftige L ebensweise auf. Steuerte rechtzeitig dagegen. Er aß gern und konnte zum wütenden Tier werden, wenn man ihm zu lange die Nahrung verweigerte. Was ihr oft das Leben rettete. Aber wenn sie ehrlich war, fiel es ihr heute schwer, den Fall als Zentrum ihres Lebens zu sehen. Sie hatte einfach nur Sehnsucht nach Unbeschwertheit mit Mike.
Aber dann sah sie vor ihrem inneren Auge den Schaukelstuhl vor dem Fenster vor sich, die Tote – Melanie – am Fuß der Kufen, den Brief in dem kleinen Brevier – und hatte sofort ein schlechtes Gewi ssen. Die Tote brauchte sie. Also nur eine kurze Pause.
»Und du? Ist bei der Obduktion etwas Neues herausgekommen? Ich bin so froh, dass ich da nicht mit musste.«
»Weiß ich doch. Nein, nichts Neues. Sie war gesund und ohne das Schädeltrauma
Weitere Kostenlose Bücher