Denn das Glueck ist eine Reise
Vergnügen für seine Leserin schrieb. Sie waren eine Einladung zum Dialog zwischen dem Großvater in der Ferne und seiner in die Welt hinausgezogenen Enkeltochter. Ohne es zu wissen, hatte Adèle diese Einladung bisher nicht angenommen. Doch es war wahrscheinlich die letzte.
Sie las alle SMS ihres Großvaters noch einmal und sah sie jetzt in einem ganz anderen Licht – trister und melancholischer. Die Nachrichten, die sie größtenteils nur überflogen und nicht beantwortet hatte, enthüllten nun eine Traurigkeit, die ihr bisher nicht aufgefallen war. Wie nach dem Gespräch mit dem alten Schauspieler wurde ihr nun ihr jugendlicher Egoismus bewusst.
Noch einmal beschloss sie, die verlorene Zeit nachzuholen.
Ein paar hundert Kilometer entfernt in der Bretagne war Georges ebenfalls hellwach. Die Nacht hatte gut begonnen, bis er wie üblich gegen vier Uhr von seiner Blase geweckt wurde. In diesem Augenblick stellte er fest, dass etwas Wichtiges in seinem Koffer fehlte: eine Taschenlampe. In dem Zimmer konnte man kaum etwas sehen, und die Nachttischlampe wollte er aus Rücksicht auf Charles nicht einschalten.
Georges, der nicht auf den Kopf gefallen war, erinnerte sich, dass das Handy leuchtete, wenn man auf die Tasten drückte. Er tastete nach dem Handy, fummelte daran herum und lief dann damit zur Toilette, ohne Charles aufzuwecken. Die leisen Töne, die das Handy von sich gab, nahm er kaum wahr und hielt sie für Geräusche der Wasserleitungen. Erst als er das eingeschaltete Handy auf den Nachttisch legte, ehe er unter die Decke kroch, hörte er: »Hallo? Hallo, Georges?« Georges nahm das Handy in die Hand, und als er auf dem Display »Ginette Bruneau« stehen sah, bekam er einen Schreck. Vermutlich hatte er sie geweckt. Hektisch drückte er auf die Tasten, bis die Stimme endlich verstummte. Zuerst war er erleichtert, doch dann ergriff ihn Panik: Wenn er wusste, dass Ginette ihn gerade angerufen hatte, musste Ginette ebenfalls wissen, dass er es war, der sie mitten in der Nacht einfach weggedrückt hatte. Wie zum Teufel war es diesem verdammten Handy gelungen, Ginettes Nummer aus dem Adressbuch herauszusuchen? Dieses Scheißding!
Er lief ins Badezimmer, um Ginette anzurufen und sie zu beruhigen. Doch ehe er dazu kam, die Nummer zu wählen, sah er, dass er eine SMS erhalten hatte. Von Ginette.
Ginette Bruneau, 30.09.2008, 22.49 Uhr
Lieber Georges, ich denke an euch und an eure Tour. Ich habe beim Tanzwettbewerb mit dem Charleston eine große Begonie gewonnen. Ein bisschen Spaß muss sein. Vielleicht kommst du eines Tages mit zum Herbstball. Ich hoffe, es geht euch gut. Ganz herzliche Grüße von Ginette.
Georges rief sie nicht an. Das hier war eine extrem heikle Angelegenheit. Er musste nachdenken und durfte nichts überstürzen. Und vor allem kein Wort zu Charles. Selbst wenn die SMS von Ginette nicht zu nachtschlafender Zeit verschickt worden war, so ermutigte sie doch zu Heimlichkeiten.
Mittwoch, 1. Oktober
Plumelec – Auray (Morbihan)
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Frei nach dem Sprichwort, Ausnahmen bestätigen die Regel, fuhren sie am nächsten Tag ihre Strecke ab, ohne anzuhalten. Vor dem Mittagessen erreichten sie ihr Ziel. Das Hotel, das am Ortsausgang von Auray auf einer Lichtung stand, war fantastisch – vornehm, aber nicht protzig, das Service-Personal sehr zuvorkommend, ohne aufdringlich zu sein, und die Räume mit antiken Möbeln eingerichtet und allesamt mit dicken Teppichböden ausgelegt. Vom Wintergarten aus konnte man sehen, wie der Regen auf die hohen Bäume im Park niederprasselte. Das Mittagessen schmeckte hervorragend. Es war die vornehmste und schönste Unterkunft seit ihrer Abfahrt.
Georges hatte wahnsinnige Lust, ein wenig zu verschnaufen und sich in einen der großen Korbsessel fallen zu lassen, die zu einer Ruhepause und zum Nachdenken einluden, doch Charles war unerbittlich. Sie hatten sich diesen Nachmittag extra freigehalten, um die weltbekannte Umgebung von Carnac zu besichtigen. Seit dem Beginn der Tour hatte Charles darauf hingewiesen: Was er sich in der Bretagne unbedingt ansehen wollte, das waren die Gegend von Carnac sowie das Radsportmuseum Louison Bobet, benannt nach dem berühmten Sieger der Tour de France in den Fünfzigerjahren. Regen hin, Regen her, Charles war fest entschlossen. Georges wollte die Megalith-Reihen natürlich auch sehen, doch allein bei dem Gedanken an den Regen spürte er sofort wieder sein Rheuma. Schließlich siegte Charles’ Entschlossenheit
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