Denn dein ist die Schuld
sechs Uhr dort, weil die Grundschule Tito Speri für die Kinder berufstätiger Eltern eine Nachmittagsbetreuung anbot, damit diese nicht sich selbst überlassen blieben, bis die Erziehungsberechtigten von der Arbeit kamen. Die Schüler blieben in den Klassenräumen und spielten so lange unter der Aufsicht von Erzieherinnen, bis sie von einem Familienmitglied abgeholt wurden.
Was bis spätestens sechs Uhr abends zu geschehen hatte.
Ivan wusste das und wurde schon gegen halb fünf Uhr unruhig, weil er vom Gemeindezentrum noch ein längeres Stück mit der Straßenbahn Nummer fünfzehn fahren musste, die notorisch unpünktlich war. Er war zwar nur einmal zu spät gekommen, aber damals hatte seine Schwester heftig geweint, und die beiden Erzieherinnen hatten ihm in ihrer Empörung, wegen ihm Überstunden machen zu müssen, gedroht, sie würden ihn bei den Sozialarbeitern melden, sollte so etwas noch einmal vorkommen.
Manche Kinder haben Angst vor der Dunkelheit. Andere fürchten sich, wenn sie Gruselgeschichten hören. Ivans Schreckgespenster waren die Sozialarbeiterinnen, die ihn und Martina bereits betreuten.
Sie kamen immer zu zweit zu ihnen nach Hause, eine Wasserstoffblondine und eine Dunkelhaarige, und stritten im Prinzip ständig mit jemandem, mit Giulio, seiner Mutter, Ivan oder wem auch immer. Sie klingelten, kamen ungefragt herein, durchwühlten den Kühlschrank, weil sie angeblich überprüfen mussten, ob die Kinder sich auch »gesund und ausgewogen« ernährten, fuhren prüfend mit dem Finger über die Möbel, um zu sehen, ob die Wohnung auch sauber war, und manchmal ordneten sie auch eine überraschende Untersuchung beim zuständigen Kinderarzt an.
Weil die beiden als »Kinder aus einer Risikofamilie« eingestuften Geschwister sich bei dieser Gelegenheit komplett ausziehen mussten und der Arzt auch die Geschlechtsorgane untersuchte, war ganz klar, dass überprüft wurde, ob sie misshandelt oder missbraucht wurden.
Ivan wusste das.
Er hatte es von seiner Mutter gehört, die es wütend herausgeschrien hatte, als mal wieder ein Schreiben mit der Aufforderung zur kinderärztlichen Untersuchung kam.
»Was glauben diese beiden Schlampen eigentlich, was hier los ist?«, hatte Annamaria Donadio so laut gebrüllt, dass die gesamte Nachbarschaft es mitbekam.
»Sie glauben, dass du in irgendeiner Bar Typen aufreißt und die dann mit nach Hause bringst. Das glauben die beiden!«, hatte Giulio Della Volpe zurückgeschrien, der sich keine Gelegenheit entgehen ließ, seine Lebensgefährtin zu beleidigen.
»Und was ist mit dir, bist du etwa kein Mann? Was sollte die beiden davon abhalten zu glauben, dass du solchen Schweinkram mit den Kindern anstellst?« Wenn Annamaria einmal loslegte, konnte sie sich nicht mehr bremsen, selbst wenn sie damit Prügel riskierte.
»Dann renn doch gleich zu den beiden! Aber pass gut auf, was du sagst, du miese Nutte, sonst wachst du im Krankenhaus wieder auf.«
»Und du lass ja die Finger von meinen Kindern, hast du kapiert?«
Seine Mutter hatte sich gar nicht beruhigen können. Erst regte sie sich über die beiden Sozialarbeiterinnen auf, dann schimpfte sie mit Giulio. Irgendwann hatte Ivan, der im sogenannten Wohnzimmer auf dem Sofa schlafen wollte, folgenden Satz von ihr gehört: »Sollte ich jemals mitbekommen, dass du sie angefasst hast, dann bring ich dich um. Lass ja die Finger von ihnen, vor allem von Martina!«
Dann hatte er nichts mehr gehört, denn seine Mutter und Giulio stritten zwar noch heftiger weiter, aber er hatte seinen Kopf unter dem Kissen vergraben und es richtig fest auf seine Ohren gedrückt. Am nächsten Tag hatte Annamaria sich krankgemeldet und die beiden mit einer riesigen Sonnenbrille auf der Nase und ins Gesicht gebürsteten Haaren, mit denen sie die blauen Flecken und Schwellungen verdecken wollte, zum zuständigen Kinderarzt begleitet, denn sonst …
Es war dieses Sonst, vor dem Ivan sich so fürchtete.
Über ihnen hing ständig wie ein Damoklesschwert die Drohung, man würde die Kinder zwangsweise aus der Familie nehmen.
Von einem Tag auf den anderen konnte man ihn und seine Schwester zu Hause abholen und in anderen Familien unterbringen, wo sie dann wie Sklaven schuften müssten.
Das hatte zumindest Giulio behauptet.
In der Küche! Wie die Sklaven!
Aber nicht zusammen, nein!
Sondern voneinander getrennt!
KAPITEL 8
Dienstag, 6. Februar, 16:45 Uhr
Klingelton Torerolied auf höchster Lautstärke. Das Nokia vibrierte.
»Ja!«
»Er ist
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