Denn dein ist die Schuld
wüstes Geschrei, Teller, die durch die Luft flogen, und zugeknallte Türen weitaus erstrebenswerter als diese nasse Kälte an der Haltestelle.
Für seine Schwester und ihn gehörte dieses Gezänk zum Alltag.
Ivan und Martina standen Hand in Hand in der Menschentraube, die sich unter der Überdachung ansammelte. Sie spürten ihre Füße nicht mehr, und ihre Lippen waren schon ganz blau. Das Mädchen war nicht nur völlig durchgefroren, sie war auch todmüde und kurz davor loszuheulen.
»Wann kommt denn endlich die Straßenbahn?«
»Hör auf mit dem Gequengel. Schau mal dorthin! Siehst du die Lichter dahinten? Das ist bestimmt die Fünfzehn, die an der Ampel warten muss. Die sollte gleich da sein.«
Jetzt standen sie dort schon seit zwanzig Minuten und warteten.
Allmählich war die Haltestelle überfüllt. Ivan zog seine Schwester nach draußen, er ertrug es nicht, wenn Fremde ihn berührten, ihm wurde schlecht, wenn er ihren Atem spürte, außerdem wusste er aus Erfahrung, dass sie sich in eine strategisch günstige Position bringen mussten, falls sie die nächste Straßenbahn erwischen wollten, wenn sie dann wirklich kam.
Draußen auf dem Bürgersteig war die Kälte noch deutlicher zu spüren, aber zumindest schubste sie hier niemand mehr herum. Der Junge beugte sich ganz weit vor und starrte in die Richtung, aus der der grüne Triebwagen auftauchen sollte, als ein Fiat Panda neben ihm bremste und kurz hinter der Haltestelle zum Stehen kam.
»Ivan? Oh, hallo, Ivan!«
Beim Anhalten streifte das Auto mit den Felgen die Bordsteinkante, was die Aufmerksamkeit der wartenden Menschen auf sich zog. Eine Frau, die etwas zu weit vorn gestanden hatte, wich hastig einen Schritt zurück.
Ivan drehte sich ruckartig um und sah, wie ein Mann sich über den Beifahrersitz beugte, um mit ihm durch das heruntergelassene Seitenfenster zu sprechen. Sein Gesicht sah er nicht genau, aber Ivan kannte die Stimme und das Auto.
Überrascht und ein wenig zögernd ging er auf den Fiat Panda zu. Martina folgte ihm. Sie schwankte ein wenig auf ihren eingeschlafenen Füßen, dabei schlug das Federmäppchen gegen die Seiten ihres harten Schulranzens auf ihrem Rücken. Der Turnbeutel am Arm schlenkerte gegen ihre Beine.
»Los, steigt schon ein!«
Ivan zögerte. Dann öffnete er die Beifahrertür.
»Ich dachte, das Auto gehört …«
»Was ist, wollt ihr noch weiter draußen in der Kälte rumstehen?«
»Unsere Mutter möchte nicht, dass wir …«
»Sie hat Recht. Ihr solltet niemals zu einem Fremden ins Auto steigen. Aber das gilt nicht für mich. Mich kennt ihr doch, oder?«
»Ja, schon, das heißt …«
»Dann macht schnell. Der Kleinen ist kalt. Willst du, dass sie sich was einfängt?«
»Nein, aber …«
»Ivan, bringt er uns nach Hause?«, kam Martinas Stimme dünn durch eine große Atemwolke.
»Ich weiß es nicht, wir wollen uns niemandem aufdrängen. Mama hat gesagt … Außerdem wird die Straßenbahn jetzt jeden Moment hier sein.«
»Ich will aber lieber bei ihm im Auto mitfahren«, quengelte das Mädchen und entwand sich dem Griff seines Bruders. »Aua! Lass mich los!«
»In Ordnung, aber hör mit dem Gejammer auf«, gab der Junge nach, der ebenfalls genug von der Kälte hatte.
Ivan hielt seiner Schwester die Tür auf, und Martina kletterte blitzartig hinein. Sie war so zierlich, dass sie sich zur hinteren Sitzbank hindurchzwängen konnte, ohne dass man dazu den Beifahrersitz des alten zweitürigen Panda vorklappen musste. Dabei verfing sich der weiße Leinentragegurt ihres Turnbeutels, auf den mit roten Stielstichen ihr Name aufgestickt war. Ihr Bruder befreite sie und setzte sich dann neben den Fahrer. Mit einem leichten Schwung schob er seinen eigenen Schulranzen über die Kopfstütze nach hinten auf die Rückbank neben seine Schwester, den Turnbeutel stellte er zu seinen Füßen ab.
»Alles klar? Können wir los?« Der Mann am Steuer schien kurz davor, die Geduld zu verlieren.
»Ja.«
Ivan musste die Tür mit einem lauten Knallen zuziehen, denn der Fiat war alt, und die Dichtungen waren abgenutzt.
»Beinahe hättest du die Tür in der Hand gehabt!«, lachte der Mann, während er losfuhr, und schaute den Jungen auf dem Beifahrersitz an.
»Entschuldigung, die ist mir aus der Hand gerutscht.«
»Macht nichts.«
Das Auto fuhr im gleichen Moment los, als die Fünfzehn neben ihnen auftauchte, die den Schneematsch spritzend aus den Gleisen schob und in der nebligen Abenddämmerung wie ein hell erleuchtetes
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