Denn dein ist die Schuld
Schuss. Ärmlich, aber sauber.
»Annamaria, ist ein Arzt bei dir gewesen?«, fragte Don Mario, sobald er sah, dass sie sich ein wenig beruhigt hatte. »Benötigst du irgendetwas?«
Annamaria blieb keine Zeit, darauf zu antworten, da jetzt hinter dem Pfarrer das harte, grimmige Gesicht ihres Lebensgefährten auftauchte.
»Wir brauchen nichts, Pfaffe. Heute Nacht haben sich hier die Uniformierten die Klinke nur so in die Hand gegeben. Die Plattfüßler haben ihren Arzt gerufen, und der hat ihr ein Beruhigungsmittel gespritzt. Sie wollen zurückkommen, wenn es ihr ein wenig besser geht. Also alles bestens, oder?«
»Was ist mit Ihnen, Giulio, haben Sie keine Idee, wo die Kinder hingegangen sein könnten?«, fragte Don Mario. »Sie können es mir ruhig sagen, wenn Sie etwas wissen. Ich …«
»Was zum Beispiel?«
Die Augen des Mannes zogen sich zu zwei böse blickenden Schlitzen zusammen, während die Wut seine Gesichtszüge verzerrte.
»Was sollte ich wissen? Das fragen Sie ausgerechnet mich!« Beim Sprechen kam ein Schwall Spucke aus seinem Mund. »Der Ivan war doch immer in Ihrem verdammten Jugendzentrum! Da sollten eigentlich Sie uns was sagen können.«
»Was soll Don Mario denn wissen, Giulio?«, mischte sich Annamaria ein, die plötzlich wieder klar denken konnte. »Ivan ist nach der Probe verschwunden, nicht vorher. Hast du nicht gehört, was der Carabiniere gesagt hat? Er hat Martina von der Betreuung abgeholt, sonst hätten uns inzwischen schon die Lehrerinnen oder der Hausmeister angerufen. Nein, schau mal, die Kinder sind zusammen irgendwohin gegangen.«
»Na toll! Dein Goldschatz Ivan hat also Martina von der Betreuung abgeholt!«, äffte der Mann sie grob mit seinem lückenhaften Gebiss nach: den typischen Zähnen eines drogenabhängigen Exknackis.
»Und wo warst du, du blöde Kuh? Du hast dir hier den Arsch auf dem Sofa plattgesessen und hast dir dieses Scheiß-Dschungelcamp angesehen, das hast du. Und nun sind die beiden verschwunden, und die Bullen machen mir deswegen einen Mordsstress!«
Don Mario erstarrte in Schweigen und ließ die beiden sich abreagieren. Dieser Streit war offensichtlich die Fortsetzung einer vor Stunden begonnenen Auseinandersetzung und würde sich höchstwahrscheinlich noch eine Weile hinziehen, wobei auf Annamarias schon verunstaltetem Gesicht bestimmt noch weitere blaue Flecke dazukommen würden.
Fünf Minuten später war Schluss mit dem Gebrüll und den Beschimpfungen. Giulio verließ das Zimmer, riss wütend seine Lederjacke vom Garderobenhaken und verließ türenknallend die Wohnung.
Don Mario atmete tief durch, bevor er anzusprechen wagte, was ihm auf der Seele lag.
»Sag mir die Wahrheit, Annamaria: Wie verhält sich Giulio den Kindern gegenüber?«
»Den Kindern? Die sieht er nicht einmal, Don Mario. Er behandelt sie weder gut noch schlecht. Für ihn sind sie einfach nicht vorhanden. Sie könnten ebenso gut zwei Fußbodenfliesen sein, verstehen Sie? Er würde über sie drüberlaufen, wenn sie auf der Erde lägen. Nicht um ihnen weh zu tun, nein, weil sie ihm völlig egal sind. Einmal hat er der Kleinen aus Versehen ein Eis gekauft. Giulio ist kein böser Mensch. Und wenn er das Geld für sie hätte, würde er es mir geben. Aber er muss immer jedem gleich auf die Nase binden, dass er nicht ihr Vater ist. Na ja, mit Ivan gibt es manchmal Probleme.«
»Schlägt er ihn?«
»Nein. Wo denken Sie hin, Giulio ist schlau. Das Jugendamt hat ein Auge auf die Kinder. Wehe, er fasst sie an. Er schlägt mich, und wenn das nicht reicht, verpasst er seinem Sohn Andrea noch ein paar Ohrfeigen, aber der kennt das schon und geht ihm aus dem Weg. Andrea taucht hier schon seit’ner Weile nicht mehr auf.«
»Also wenn er ihn nicht schlägt, was gibt es dann für Probleme?«
»Don Mario, Sie kennen doch Ivan. Manchmal ist er bockig und legt sich mit Giulio an. Und der droht ihm dann.«
»Womit droht er ihm?«, fragte der Pfarrer mit undurchdringlichem Gesichtsausdruck.
»Ach, nichts Besonderes, manchmal sagt er ihm, nach den Pflichtschuljahren ist es vorbei mit dem schönen Leben, weil er ihn dann auf den Bau schickt. Er sagt ihm, er ist nicht verpflichtet, ihn zu ernähren, und Ivan muss sich dann Essen und Wohnung selbst verdienen. Und einmal …«
»Was einmal?«, drängte Don Mario.
»Einmal hat er gesagt, er wollte Martina in eine Pflegefamilie geben.«
Annamaria sprach das Wort Pflegefamilie wie »Strandurlaub« aus.
»Da ist Ivan völlig ausgerastet. Nachts hatte
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