Denn dein ist die Schuld
Gründe auf einmal, um sich in einem Verhörraum auf dem Polizeipräsidium nicht ganz wohl zu fühlen, meinst du nicht?«
»Wir befragen sie doch nicht im Verhörraum. Das ist doch nur eine kleine Unterhaltung in meinem Büro.«
»Ja, nur eine kleine Unterhaltung mit einer Dolmetscherin, und der Rekorder läuft auch dazu. Und du feuerst eine Frage nach der anderen auf sie ab und sagst Dinge wie ›Am 7. Februar, um … und so weiter‹, ›Hier anwesend Ispettore Capo Vincenzo Marino. Weiterhin anwesend …‹. Ach komm, Vince, an ihrer Stelle hätte ich auch Angst.«
»Kann sein …«, doch Marino klang nicht gerade überzeugt.
Er hatte überhaupt nichts gegen Migranten und behandelte Nelea genauso, wie er eine Italienerin behandelt hätte. Marino war selbst Sohn und Enkel von Auswanderern und hatte seine geliebte Heimat verlassen müssen. Seine Großeltern hatten noch die Hölle von Marcinelle miterlebt: nichts als Brot und Zwiebeln in einem dunklen Loch, im rauchenden Schein von Öllampen, die Nasenlöcher voller Kohlenstaub und nachts ein mit Maisblättern gefüllter Sack als Schlafplatz in der Baracke …
Die Großeltern waren nach Belgien ausgewandert und hatten die vier größeren Kinder im arbeitsfähigen Alter mitgenommen. Seine Mutter, die Jüngste, hatten sie in die Obhut der Barmherzigen Schwestern in Caserta gegeben. Er war mit den Kindheitserinnerungen seiner Mutter aufgewachsen, trostlose Erinnerungsfetzen eines kleinen Mädchens, das von beinahe immer abweisenden Gesichtern umgeben wie ein Waisenkind aufgewachsen war. Strafen, der Geruch nach Gemüsesuppe, zu lange Stunden Beten in der eiskalten Kapelle. Und Regeln, Regeln und noch einmal Regeln.
Wie sollte ausgerechnet er Vorurteile gegen dieses unglückliche Kindermädchen haben, nur weil es illegal hier lebte!
Er war eben kein umgänglicher Mensch.
Nein, sagen wir ruhig, er benahm sich schrecklich.
Und trotzdem, diese wunderschöne, hochgewachsene Frau mit den aristokratischen Gesichtszügen und den Augen, die ständig hin und her huschten wie ein verängstigtes Mäuschen und niemals ihren Gesprächspartner ansahen, hatte etwas Ausweichendes, nicht gerade Klares an sich.
Marinos Abneigung grenzte schon an Feindseligkeit.
»Ich glaube, sie lügt«, sagte er zu seiner Kollegin.
»In welcher Beziehung sollte sie lügen? Die Eltern des Babys haben doch bestätigt, dass sie selbst darauf bestanden, dass sie jeden Tag bei jedem Wetter nach draußen ging. Die Familie wohnt am Viale Majno, und sie brachte das Baby üblicherweise in den Park, damit es möglichst wenig Autoabgase abbekam. Der Park scheint mir eine vernünftige Wahl.«
»Ja, aber …«
»Wir werden sie gehen lassen müssen, Vince. Wir haben nichts in der Hand, um sie hierzubehalten. Und pass auf, wie du sie behandelst, schließlich können wir nicht riskieren, dass morgen in der Zeitung steht, die Polizei hat etwas gegen Migranten. Die Lega Nord ist nicht mehr an der Macht.«
Sandra Leoni klang ungeduldig und leicht verärgert. Bei all der Laufarbeit, die jetzt noch vor ihnen lag, ging ihr das unmotivierte Zögern ihres direkten Vorgesetzten auf die Nerven.
Doch Marino war nicht überzeugt, Sandra Leoni bemerkte, wie er immer noch schwankte.
»Was ist?«, fragte sie ihn deshalb. »Gehst du jetzt und sagst es ihr oder soll ich es tun?«
»In Ordnung, ich gehe schon«, sagte Marino widerstrebend, aber an Sandra Leonis Argumentation war nichts auszusetzen. »Kümmere du dich um den Bericht.«
Das ließ sich seine Mitarbeiterin nicht zweimal sagen. Sie winkte ihm zum Abschied zu und verschwand mit schwingenden Haaren über den Flur.
Es roch nach Vanille-Zimt-Shampoo.
Marino ging in den Raum zurück, in dem Nelea auf ihn wartete, aber er konnte seine Zweifel nicht abschütteln.
KAPITEL 17
Mittwoch, 7. Februar, 21:30 Uhr
»Das genügt, Signorina«, sagte Vincenzo Marino und reichte Nelea das Protokoll ihrer Aussage. »Lesen Sie es durch, und unterschreiben Sie, dann können Sie gehen. Aber halten Sie sich zu unserer Verfügung, weil wir uns bestimmt noch einmal mit Ihnen unterhalten müssen. Sie sind Zeugin einer Entführung geworden, und der ermittelnde Staatsanwalt wird Sie persönlich befragen wollen.«
»Dann ich nicht muss hierbleiben?« Nelea starrte Marino ungläubig an.
»Nein. Wenn nicht noch etwas herauskommt, das Sie belastet, steht es Ihnen frei zu gehen. Wenn Sie das Protokoll unterschrieben haben, können Sie nach Hause.«
»Mein Zuhause in Italien ist
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