Denn dein ist die Schuld
Pass war längst abgelaufen, aber das Mädchen war in Italien nicht vorbestraft, und ihre Arbeitgeber hatten bereits einen Antrag gestellt, um ihren Aufenthalt zu legalisieren. Das genügte für den Augenblick, um sie aus der Illegalität herauszuholen.
Draußen war es schon seit einiger Zeit dunkel, als man Nelea schließlich zur Abteilung für Verbrechensbekämpfung brachte, wo sie von Ispettore Capo Vincenzo Marino und Ispettrice Sandra Leoni befragt wurde.
Zur Sicherheit rief man noch eine Dolmetscherin für Moldawisch in Marinos Büro, obwohl Nelea, die aus Tiraspol kam, neben Russisch und Rumänisch auch ein verständliches Italienisch sprach.
Die beiden nahmen Nelea über zwei Stunden in die Mangel.
Eine Entführung zu dieser Zeit und an diesem Ort war ziemlich seltsam.
Was hatte sie mit einem Baby im Kinderwagen bei Schnee mitten im Park zu suchen, und das bei Temperaturen um den Gefrierpunkt?
»Wir jeden Tag dort gehen, immer«, antwortete Nelea in einem holprigen Italienisch, doch die klare Aussprache mit den gepressten Vokalen und der leichten Falsettstimme ließ auf eine gebildete Osteuropäerin schließen. »Signor und Signora Simonella wollen, dass wir auch mit Regen und Schnee draußen. Alle Tage.«
Was war mit den Entführern? Hatte sie sie genau gesehen?
»Ich sehe, wenn sie kommen. Ich nicht glaube, sie kommen, um Giovanni mitnehmen, sonst ich wäre weggelaufen. Ich aber sehe, einer klein und breit, anderer groß und slimmest . Wie heißt? Ganz dünn. Der Dünne hat Haare in Pferdeschwanz. Lange, dünne Pferdeschwanz und Haare ganz fest mit Gel. Schwanz sieht aus wie Schwanz von Ratte und bewegt sich mit Kopf, und er hat mir auch hier auf die Haut geschlagen.« Nelea berührte ihre Wange.
»Alle beide haben gekleidet schwarze Mäntel, schwarze Brillen. Ich nicht gut sehe ihre Gesichter, aber dünner Mann hatte hier«, sie fasste sich ans Kinn, »Haare sehr spitz, lang und dünn.«
Alles in allem sieht der aus wie eine Wasserratte, dachte Ispettrice Sandra Leoni.
Die sieht aus wie eine Nutte, dachte Ispettore Capo Vincenzo Marino.
Vincenzo Marino stammte aus Neapel. Er lebte jetzt seit fünf Jahren in Mailand, und das, was er von der Stadt kennen gelernt hatte, hasste er. Kein Wunder, dass er generell unfreundlich war. Vor allem, wenn Zeugen bei einem so schwerwiegenden Verbrechen wie der Entführung eines Babys nicht den Mund aufbekamen.
Ehrlich gesagt konnte man Nelea nicht als unwillig bezeichnen, aber sie flößte ihm eine unüberwindliche Abneigung ein. Und das nicht etwa, weil sie aus einem Nicht-EU-Land stammte und sich illegal in Italien aufhielt.
»Wenn Ihnen das Kinn und die Haare aufgefallen sind, haben Sie den Männern doch direkt ins Gesicht gesehen. Erinnern Sie sich noch an weitere Einzelheiten?«
»Ich nicht mehr kann sagen, denn sie mich geschlagen und weggenommen Giovanni. Als ich wieder auf Beine, sie weg. Dann ich habe gerufen policija .«
»Na schön. Wir werden Ihnen unsere Kartei beim Erkennungsdienst zeigen müssen. Glauben Sie, dass Sie die beiden auf einem Foto wiedererkennen?«
»Ich … nicht weiß. Ja, vielleicht ja, aber ich nicht sicher …«
Nelea war erschöpft und schien den Tränen nahe, aber es gelang ihr, sich zu beherrschen, indem sie oft Pausen zwischen den einzelnen Sätzen machte und tief durchatmete. Doch Marino entging nicht, dass in ihrer Stimme Verzweiflung mitschwang. Diese Frau steht unter Schock, dachte er, während er registrierte, wie ihre Augen ständig nervös zur Tür gingen. Aber sie ist auch eingeschüchtert. Vor wem oder was fürchtete sie sich?
Unter einem Vorwand verließ er den Raum. Er drehte eine Runde durch die Flure, um einige Minuten vergehen zu lassen, bevor er auf dem internen Apparat Sandra Leoni anrief und sie bat, zu ihm zu kommen. Sobald sie allein auf dem Flur standen, teilte er ihr seinen Verdacht mit.
»Ich sage dir, die weiß was. Die hat viel zu viel Angst. Außerdem schaut sie einen nicht an, wenn man mit ihr spricht.«
»Nein, da irrst du dich, Vince.«
Sandra Leoni schüttelte den Kopf. An diesem Tag trug sie ihre sehr langen schwarzen Haare offen und mit einem Mittelscheitel. Diese ein wenig altmodische Frisur betonte ihre markanten schönen Gesichtszüge.
»Die weiß nichts. Ich sehe ja auch, dass sie zu Tode erschrocken ist, aber verdammt noch mal, man hat gerade das Baby entführt, das ihr anvertraut war! Außerdem ist sie eine Ausländerin ohne Aufenthaltserlaubnis. Das sind gleich mehrere
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