Denn dein ist die Schuld
Hemd und Krawatte, die weniger zueinander passend, sondern zufällig ausgewählt schienen, was heißen soll, man sah ihnen an, dass er sie am Morgen willkürlich aus dem Kleiderschrank genommen hatte, weil sie gerade sauber waren - genau so wie das, was er war: ein treuer Diener des Staates, unterbezahlt und über die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit hinaus ausgebeutet.
»Ispettore Capo Vincenzo Marino?«
Ein knapper Händedruck.
»Man hat mir gesagt, Sie wollten mich sprechen.«
»Ja, ich bin mit den Ermittlungen im Entführungsfall Simonella beauftragt. Sie werden bestimmt darüber Bescheid wissen.«
»Ja, ich habe davon gehört.«
Steif und verschlossen wie eine Auster hielt Tenente Colonnello Glauco Sereni die Fahne hoch für die sprichwörtliche Verschwiegenheit der Carabinieri.
»Ich weiß, dass bei euch im Haus über das Verschwinden der Minderjährigen Della Seta ermittelt wird. Die beiden sind nur wenige Stunden vor dem kleinen Simonella verschwunden, und da habe ich mich gefragt, ob …«
Marino konnte seinen Satz nicht beenden, denn in diesem Moment klingelte Serenis Handy.
»Erlauben Sie? Nur einen Augenblick?«
Der Offizier der Carabinieri entfernte sich ein paar Schritte, lauschte kurz dem, was am anderen Ende der Leitung gesagt wurde, und erwiderte dann knapp: »Ich komme.«
Er unterbrach die Verbindung und kehrte zu Marino zurück.
»Entschuldigen Sie bitte, Ispettore. Ich kann jetzt leider nicht länger bleiben. Ich würde Sie gern morgen oder zu einem späteren Zeitpunkt wieder treffen, wenn ich mich freimachen kann, aber jetzt muss ich leider los …«
»Machen Sie sich keine Gedanken«, Vincenzo Marinos Lächeln war so strahlend, dass man damit ein ganzes Haus hätte beleuchten können. »Ich habe das Gefühl, dass wir alle beide zum selben Termin müssen.«
Eine skeptisch hochgezogene Augenbraue und der Anflug eines Lächelns. »Wirklich?«
»Ja, wenn auch Sie wie ich soeben beim Obersten Staatsanwalt einbestellt wurden.«
Im Büro des Obersten Staatsanwalts Giulio Cerreti Strada fand ein echtes Gipfeltreffen statt.
Marino hatte den Irrtum begangen, für den Rückweg nach Mailand die Straße am Naviglio zu nehmen, und geriet prompt an der Ausfahrt der Umgehungsstraße in einen riesigen Stau. Er hatte kein Martinshorn, weil er mit seinem eigenen Wagen unterwegs war, aber im Handschuhfach war zumindest das magnetisch zu befestigende Blaulicht. Als er sah, dass irgendwann überhaupt nichts mehr voranging, platzierte er es auf dem Autodach und bahnte sich seinen Weg, indem er dazu auf die Hupe einhieb.
Als er am Justizgebäude ankam, bemerkte er, dass eine allgemein gereizte Stimmung im Raum lag, was ganz sicher damit zusammenhing, dass die Versammelten über fünfzehn Minuten ihrer kostbaren Zeit damit verschwendet hatten, auf jemanden zu warten, der mit erheblicher Verspätung eintraf, nämlich auf ihn.
Tenente Colonnello Glauco Sereni von der Carabinieristation von Rozzano, der sich mit den Ermittlungen im Fall Della Seta befasste, war schon dort, saß auf einem der vordersten Plätze. Bestimmt hatte er sich von einem jungen Beamten hinbringen lassen, mit Sonderausbildung für Schnellfahrten.
Außerdem anwesend:
Ispettrice Sandra Leoni, die gemeinsam mit ihm für den Fall Simonella zuständig war.
Carlo Maria Salvini, der ermittelnde Staatsanwalt im Fall Giovanni Simonella.
Laura Scauri, ermittelnde Staatsanwältin im Fall Ivan und Martina Della Seta.
Dazu noch zwei Mitarbeiter, die Marino nur flüchtig kannte: Pogliani und Ragazzoni von der Mordkommission.
Seltsam, dass man sich nicht im Zimmer des für den Fall zuständigen Staatsanwalts Carlo Maria Salvini traf, sondern bei Seiner Hoheit, dem Chef der Staatsanwaltschaft persönlich. Doch die größte Überraschung war die Anwesenheit von Laura Scauri, der mit der Koordinierung der Ermittlungen im Fall Della Seta betrauten Staatsanwältin. Das bedeutete, dass man inzwischen einen Zusammenhang mit der Entführung von Giovanni Simonella als gesichert annahm.
Laura Scauri war zwischen fünfzig und sechzig, untersetzt und kräftig. Ihr kantiges Gesicht wirkte stets arrogant. Sie wurde leicht laut. Das war Laura Scauri.
Aber sie war gut in ihrem Job.
Wenn die ihre Fälle vor Gericht brachte, ließ sie sich nicht von den Verteidigern auseinandernehmen. Doch es war schwierig, mit ihr zusammenzuarbeiten, und mit ihr auszukommen war unmöglich. Vincenzo Marino kreuzte die Finger und hoffte nur, dass er nicht auch noch
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