Denn dein ist die Schuld
Leoni klang verärgert, als sie direkt von ihrem Notizblock ablas: »Camenillho ist ohne festen Wohnsitz und treibt sich vorwiegend in der Gegend um den Arco della Pace herum, im Sempione-Park.«
Hut ab, Leoni, dachte Marino, als er sah, dass die Ispettrice irgendwo die Zeit gefunden hatte, sich auf diese Sitzung vorzubereiten. Er lächelte in sich hinein, denn er freute sich schon darauf zu hören, wie sie sich später rechtfertigen würde, warum sie ihrer Pflicht nicht nachgekommen war, ihren eigenen direkten Vorgesetzten, der gerade anderweitig beschäftigt war, als Ersten darüber in Kenntnis zu setzen.
Er würde ihr die Rechtfertigung schon aus den Rippen leiern!
Wo kommen wir denn da hin?
»Nachts schließt sich Morena nach eigenen Angaben einer Gruppe Peruaner an, meist in Begleitung eines gewissen Morales, Jorge, der auch Capitano genannt wird, weil er auf Containerschiffen gefahren ist. Tagsüber bewegt sie sich im Chinesischen Viereck: Paolo Sarpi, Via Canonica, Porta Volta und Porta Tenaglia.«
Sandra Leoni war wirklich gut vorbereitet, stellte Marino fest. Ein Zeichen, dass sie diese Morena persönlich befragt hatte. Super! Ein offener Verstoß gegen die Dienstvorschriften. Denn zunächst hätte sie ihn informieren und dann seine Anweisungen abwarten müssen.
Wie auch immer, jetzt war das Beste wohl, erst einmal zuzuhören.
Zum Aufregen blieb hinterher immer noch genug Zeit.
»Camenillho hat zwar einen Ausweis, mit dem er sich eine Mahlzeit in der Suppenküche der Franziskaner abholen kann, doch wie viele andere Obdachlose durchwühlt er fast jeden Morgen die schwarzen Plastiksäcke mit dem Abfall, bevor sie von der Müllabfuhr entsorgt werden. In der Via Paolo Sarpi gibt es viele Läden mit chinesischen Waren und meiner Meinung nach auch viele illegale Betriebe, in denen Minderjährige beschäftigt werden … Aber bleiben wir beim Thema. Es ist wohl so, dass man in dieser Gegend häufiger im Müll noch tragbare oder zu Geld zu machende Kleidung oder Waren finden kann.
Am Mittwochmorgen gegen sieben Uhr dreißig hat Léon Camenillho in der Via Sarpi, etwa auf Höhe der Via Bramante, eine Tüte gesehen, die etwas kleiner war als die üblichen Müllsäcke. Er hat sie befühlt, und als er feststellte, dass sie weich war und auf Druck nachgab, hat er gedacht, sie enthielte Altkleider. Da diese Tüte nicht allzu groß war, hat er sie auf den Kinderwagen geladen, den er seit Jahren hinter sich herzieht, und ist damit weitergegangen.«
»Haben Sie die Herkunft des Kinderwagens überprüft?«, fragte der Oberste Staatsanwalt Giulio Cerreti Strada und beteiligte sich damit zum ersten Mal an dem Gespräch.
»Ja, wir haben auch diesen beschlagnahmt. Er ist alt und vergammelt, wahrscheinlich stammt er vom Sperrmüll am Straßenrand. Der hat nichts mit den anderen beschlagnahmten Gegenständen zu tun. Im Moment ist Camenillho bei meinen Kollegen in der Zentrale und geht ihnen gewaltig auf die Nerven, weil er seine Beute wiederhaben will.«
»Den Kinderwagen hättest du ihr auch lassen können, dämliche Schnepfe!«, grummelte Vincenzo Marino vor sich hin, den die Art, wie sie ihm in den Rücken gefallen war, immer mehr aufregte. Anders konnte man das nicht nennen.
»Noch Fragen?«, meinte der Staatsanwalt und warf einen abwartenden Blick in die Runde. »Keiner? Gut, dann müssen wir mit den Ermittlungen dort anfangen, wo die Tüte gefunden wurde. Wir können nur hoffen, dass die Überreste von Nelea Eminescu, wenn sie wirklich tot ist, wovon man ausgehen muss, nicht über die ganze Stadt verteilt wurden. Und dass sie nicht in der Müllverbrennungsanlage gelandet sind. Dottor Cerreti Strada, wenn Sie einverstanden sind, würde ich meinen, dass man bei den Behörden der Republik Moldawien dringend um Amtshilfe ersuchen sollte. Wir müssen mehr über diese unglückliche junge Frau in Erfahrung bringen … Für den Moment war das gute Arbeit. Wir werden uns gegenseitig auf dem Laufenden halten, wenn es etwas Neues gibt. Wir sollten auf jeden Fall besonderes Augenmerk darauf richten, was sich aus der Abhörung der Wohnung der Simonellas ergibt. Ihnen allen einen schönen Tag!«
»Von wegen unglückliche junge Frau!«, meinte Sandra Leoni, sobald sie das Zimmer verlassen hatte. »Die steckt bestimmt in der Entführung mit drin und wollte, dass diese Sachen gefunden werden. Das ist bestimmt nur eine falsche Fährte!«
»Ich an deiner Stelle wäre lieber vorsichtiger mit meinen Worten.« Vincenzo Marino, der im
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