Denn dein ist die Schuld
Schal vergessen hatte. Das galt allerdings nur rein theoretisch, denn als er ein kleiner Junge war, hatte sein Vater ihn zum Spaß mit den Grundregeln des Autofahrens vertraut gemacht.
Kupplung, erster Gang, Gas geben, dann die Kupplung loslassen, dann zweiter Gang …
Und Don Mario? Im Fernsehen hatte es geheißen, er habe sich freiwillig gestellt. Aber was hatte er gestanden? Man merkte doch gleich, wenn einer perverse Vorlieben hatte, und Leo hatte in all den Jahren nichts bemerkt. Außerdem war der Don alt! Leonardo sprang von einem Gedanken zum nächsten und vergaß darüber den Schal, denn er blieb bei der schwankenden Erscheinung des Priesters hängen, wie er den Beichtstuhl verließ und sich bei seinem Gang durch das Kirchenschiff schwer auf seine Schulter stützte.
Am selben Abend hatte Leonardo Don Mario nur ein paar Stunden früher bei der Vespermesse gesehen, und als sie sich da voneinander verabschiedet hatten, hatte er auf ihn ganz normal gewirkt.
Hastig und in Eile, wie immer.
Leonardo hatte nicht gesehen, wie er den Beichtstuhl betreten hatte. Das musste wohl während des Rosenkranzgebets gewesen sein. Als er dort herauskam, sah er um zehn Jahre gealtert aus.
Zu viel Unerklärliches für seinen verwirrten Kopf.
Der Don, der schlagartig gealtert war.
Der Schal.
Der Panda.
Dieser Mensch, den er aus dem Augenwinkel in der Kirche gesehen hatte, obwohl eigentlich niemand dort sein konnte.
Leo wusste, dass der Pfarrer abends während der Vespermesse die Beichte abnahm, bis etwa halb, höchstens Viertel vor sieben. An jenem Abend war es aber schon acht Uhr gewesen. Er erinnerte sich so genau daran, weil die Kirche bereits abgeschlossen war, als sie sie gemeinsam verließen. Pulitanò machte seinen letzten Rundgang zwischen sieben und halb acht, und er wich niemals von seinem Zeitplan ab, denn schließlich trug er die Verantwortung.
Aber wenn die Kirche schon abgeschlossen gewesen war, wie war dieser Mann dann hineingekommen?
Er konnte nur durch die Sakristei gekommen sein.
Also musste er einen Schlüssel gehabt haben, weil die Außentür der Sakristei immer abgeschlossen war.
Merkwürdig, denn im Allgemeinen gab der Don Schlüssel, besonders die zur Kirche, nicht leicht aus der Hand. Leo hatte erst Zugang dazu erhalten, nachdem er schon Jahre mit dem Chor arbeitete, und auch nur, weil er die Programme für die Konzerte proben musste, wenn die Kirche leer war.
Einen kompletten Satz besaßen nur Don Mario, Don Andrea und Pulitanò, der diesen allerdings aus Sicherheitsgründen nie mit nach Hause nahm. Er bewahrte ihn im Schrank auf und behielt nur die Schlüssel für die Außentür der Sakristei und die Schranktür.
Die ehrenamtlichen Küster kamen und gingen nur zu den Zeiten, an denen das Portal offen stand. Zur Not wandten sie sich an Pulitanò, der so immer Bescheid wusste, wer in der Kirche ein und aus ging. Genauso hielten es auch die Frauen, die sich um die Blumen und die Altardecken kümmerten.
Wer war dieser Mann?
Leo hatte ihn nur flüchtig von hinten gesehen, als er im Dunkeln davoneilte, und er war ihm bekannt vorgekommen, aber dieser Eindruck war nur vage.
Er schloss die Augen und wandte die gleiche Methode an, die ihm immer half, wenn er ein zufällig gehörtes Musikstück aus dem Kopf niederschreiben sollte.
Die Niederschrift aus dem Gedächtnis war eine Übung, die Musikstudenten in der Abschlussklasse lernten. Leonardo konzentrierte sich.
Er hatte sich umgedreht, um über das Geländer zu schauen, als er die Schritte gehört hatte.
Leichte, schlurfende Schritte, die sich hastig entfernten.
Leichte Schritte, nicht so schwer und eilig wie die von Don Mario. Und Pulitanò lief lautlos, da er beim Putzen der Kirche merkwürdige Schuhe mit Filzsohlen trug.
Oben auf der Empore kam jeder Laut verstärkt an. Er konnte dort oben jede Münze klirren hören, die in das Kästchen für die Kollekte geworfen wurde. Und das Anreißen der Streichholzköpfchen, wenn jemand Kerzen anzündete. Doch die Schritte des Küsters hörte er nie, während die des Dons beim Verlassen des Beichtstuhls klar und unverwechselbar zu ihm heraufdrangen. Er selbst orientierte sich an diesen Schritten - dann wusste er nämlich, dass es Zeit war, alles auszumachen und nach Hause zu gehen.
Als der Mann den Beichtstuhl verließ und schnell durch das Kirchenschiff eilte, hatte man kein Rascheln von Kleidern gehört. Er trug also einen Wollmantel. Einen dunklen Mantel.
Die Gestalt war ihm beim Fortgehen
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