Denn mein ist deine Seele: Psychothriller (German Edition)
dass die Lehrer in die Schule gingen, die Schüler allerdings nicht. Eliza kannte das noch aus ihrer Jugend in Maryland, aber an so viele Lehrertage im Jahr erinnerte sie sich nicht. Jedenfalls hatte ihnen das verlängerte Wochenende eine Gelegenheit für die Fahrt hierher geboten. Die Ausrede, Thomas Jeffersons Landsitz Monticello zu besuchen, machte die Fahrt zu einer öden Bildungsreise, bei der Iso nicht Lunte roch. Albie fuhr gerne mit, obwohl er nicht genau wusste, wer Thomas Jefferson war. Ein Grund mehr, Monticello zu besuchen.
»Sie gehen davon aus, dass ich dafür bin«, sagte Blanding. »Ich bin mir da nicht so sicher.«
»Walter will es aber«, warf Eliza ein. Sie überließ Peter gern den energischeren Part in dieser Unterhaltung, mischte aber auch mit, damit Blanding sie nicht für ein altmodisches Frauchen hielt, dessen Mann alles bestimmte. Peter hatte einfach mehr Übung im Diskutieren.
»Ich wahre die Interessen meiner Mandanten. Was nicht heißt, dass ich blindlings auf sie höre. Walter hat nicht immer erkannt, was das Beste für ihn war.«
Eliza nickte. »Bei seinem ersten Prozess wollte er aussagen«, erzählte sie Peter. »Damals hatte er einen anderen Anwalt und – na ja, wahrscheinlich hätte er sich keinen guten Dienst erwiesen, wenn er behauptet hätte, alles wäre nur ein Unfall gewesen. Aber das ist schon lange her. Bei unseren Gesprächen macht er den Eindruck, als habe er sich wirklich verändert. Er ist jetzt nachdenklicher und bedächtiger.«
»Stimmt«, sagte Blanding. »Trotzdem hege ich meine Zweifel.«
Was konnte Eliza dazu sagen? Walters Anwalt verfügte über einen guten Instinkt. Sie hatten ihm natürlich nicht erzählt, was Walter als Gegenleistung für einen Besuch von Eliza versprochen hatte. Peter betrachtete ihre Entscheidung nur als strategischen Zug, aber Eliza wollte sich auch vor dem Eindruck schützen, sie ließe sich von Walter manipulieren, er würde mit ihr spielen. Es hätte sie nicht überrascht, wenn Walter sie mit einem Versprechen ins Gefängnis gelockt hätte, das er von Anfang an nicht halten wollte. Irgendwas würde er ihr sicher sagen, er würde ihr irgendeinen Informationsbrocken hinwerfen, der längst nicht alles erklärte, und dann behaupten, sie habe ihn falsch verstanden. In dieser Hinsicht benahm sich Walter wie ein Zehnjähriger. Elizas Mutter glaubte schon lange, Walter sei in seiner Jugend zutiefst verletzt worden und würde in sein kindliches Ich zurückfallen, wenn er sich bedroht fühlte oder wütend wurde. Damals hatte es Momente gegeben, in denen sich Eliza älter als Walter vorgekommen war oder zumindest erfahrener in manchen Dingen. Einmal hatte er sich in einem Restaurant eine Handvoll bunter Minzbonbons aus einer Schale neben der Kasse genommen, und sie hatte ihm später möglichst behutsam beigebracht, dass er den Plastiklöffel hätte benutzen sollen. Gedemütigt und beleidigt hatte er zurückgeschossen. »Ich bin sauber«, hatte er gesagt. »Ich wasche mir ständig die Hände, im Gegensatz zu dir.«
Damit hatte er sogar recht. Wenn sie Albie zum Waschen ermahnte, musste sie manchmal daran denken, wie Walter sich über ihre mangelnde Hygiene beschwert hatte.
Peter fragte Blanding: »Haben wir bessere oder schlechtere Chancen dadurch, dass sein Hinrichtungsdatum schon feststeht?«
»Etwas bessere«, gab Blanding mit gequälter Miene zu. Eliza wurde klar, dass Walters bevorstehender Tod ihn traurig machte. Aus persönlichen Gründen, aus beruflichen oder aus einer Mischung aus beidem? »Aber nur, wenn es keinen Medienrummel gibt. Wenn Sie dort mit einem Reporter aufkreuzen oder vorher oder nachher Interviews geben wollen, wird sich das Gefängnis auf nichts einlassen.«
»Mr. Blanding, ich bin der ganzen Sache mein Leben lang aus dem Weg gegangen. Es soll niemand wissen, dass ich Walter besuche.«
»Heraus kommt es auf jeden Fall«, sagte der Anwalt. »Es ist zwar eine staatliche Einrichtung, aber auch ein typisches Büro, in dem über alles Ungewöhnliche geklatscht wird. Und es ist extrem ungewöhnlich, dass jemand im Todestrakt Besuch bekommt, besonders von einem seiner …« Er suchte nach dem rechten Wort.
»Opfer« , half Eliza aus. »Das ist wohl das Paradoxe an der Situation: Wer im Todestrakt sitzt, hat in der Regel keine lebenden Opfer mehr.«
Der Anwalt war nicht besonders attraktiv, aber er hatte blassblaue Augen, die durch sein Hemd betont wurden, und er wirkte rührend ernsthaft. »Mrs. Benedict, ich weiß,
Weitere Kostenlose Bücher