Denn mein ist deine Seele: Psychothriller (German Edition)
Holly jeden Tag. Jeden einzelnen Tag. Und jetzt betrachtete sie die schäbigere Version des Lebens, das ihre Tochter hätte führen können: Haus, Ehemann, Kinder, Hund.
Als sie den Zettel durch den Briefschlitz warf, kam es ihr vor, als würde sie eine Flaschenpost abschicken, als hätte ihr Briefchen keine Chance, die Zivilisation zu erreichen, und schon gar nicht den Menschen, für den es gedacht war. Dem Verstand nach wusste sie, dass es auf Elizabeth Lerner warten und ihr grausam vorkommen würde – wie ein Eimer voll Wasser auf einer Türkante oder ein Teppich über einem Loch im Boden. Doch Trudy erschien ihr Briefchen substanzlos und fragil, als könnte es ohne jede Spur verschwinden, deshalb wünschte sie sich nichts mehr, als ein Streichholz anzuzünden und das ganze Haus niederzubrennen.
Kapitel 35
Normalerweise sprach Walter gern mit seinem Anwalt. Jefferson D. Blanding war freundlich und intelligent. Er forderte Walter heraus und gab ihm das Gefühl, er würde an einer größeren Welt teilhaben. Es ging bei Weitem nicht nur um juristische Angelegenheiten. Sie unterhielten sich über das Tagesgeschehen und, soweit es das Berufsethos erlaubte, über die anderen Männer in Sussex I, die Jeff vertrat. Heute zum Beispiel hatte Walter ihm noch einmal gesagt, wie sehr er sich über den Aufschub für den jungen Kerl freute, der die alte Frau umgebracht hatte. Das war nicht gelogen. Er freute sich für den Anwalt. Aus Prinzip, auch wenn er von dem Mann, um den es ging, nichts hielt.
Aber selbst bei diesem netten Geplauder fand Walter es anstrengend, mit Jeff zu reden, weil er etwas zu verbergen hatte. Halten Sie das wirklich für ratsam? Sie verschweigen mir doch nichts, oder? Im Laufe der Jahre war Walter ein wenig hochmütig geworden, was seinen Verstand betraf, besonders nachdem er in verschiedenen Intelligenztests über dem Durchschnitt gelegen hatte. Er war kein Genie oder etwas Außergewöhnliches, aber eindeutig über dem Durchschnitt, und seitdem war er überzeugt davon, dass er sich in jedem Gespräch behaupten oder es vielleicht sogar kontrollieren konnte. Aber sich in Gesprächen mit Elizabeth unter Kontrolle zu haben, war etwas ganz anderes, als Jeff anzulügen, zu dem er sonst immer absolut ehrlich war. Jeff vertraute ihm. Nicht ein einziges Mal hatte er Walter gefragt, warum er Elizabeth geschrieben und sie auf seine Anruferliste gesetzt hatte, er hatte nicht einmal Walters Geschichte angezweifelt, er sei in einem Zeitungsartikel über sie gestolpert. (Anwälte mussten nicht unbedingt wissen, wer auf den Anruferlisten ihrer Mandanten stand, aber Walter hatte Jeff davon erzählt, damit es nicht so aussah, als würde er etwas verbergen.) Walter hatte seinen Anwalt früher nie belogen und täuschte ihn auch jetzt nicht gern. Aber wenn er Jeff alles erzählte, würde er auf keinen Fall zulassen, dass Elizabeth ihn besuchte.
»Ich finde es natürlich großartig, dass Sie sich bei ihr persönlich entschuldigen wollen«, sagte Jeff. »Aber wie Sie sich nachher fühlen, hängt davon ab, mit welchen Erwartungen Sie die Sache angehen.«
Ich erwarte, dass sie mich vor der Hinrichtung bewahrt, Kumpel. »Wie meinen Sie das?«
»Na ja, vielleicht gibt sie Ihnen nicht, wie soll ich sagen, was Sie sich emotional erhoffen. Ich meine, wenn Sie wollen, dass sie Ihnen vergibt oder verzeiht – das wird wohl nicht passieren. Sie ist ja ganz nett …«
»Das war sie schon immer.«
»Aber sie achtet genau darauf, dass niemand vergisst, auch sie zu den Opfern zu zählen.«
»Sie war ein Opfer«, sagte Walter. »Es ist ihr Recht, das so zu sehen.«
»Schön und gut, so abstrakt haben wir leicht reden. Aber stellen Sie sich mal vor, wie es ist, wenn sie Ihnen gegenübersitzt, direkt hinter der Glasscheibe, und Ihnen sagt, dass sie Ihnen nicht vergibt, dass sie das nicht kann. Das könnte die Sache noch viel schwerer machen.«
Die Sache. Damit wollte Jeff sagen, dass es jetzt ernst wurde, dass Walter dieses Mal sterben würde. Über zwanzig Jahre im Todestrakt, das war ein Rekord für Virginia, wenn nicht sogar für andere Staaten. Über zwanzig Jahre, dabei war er noch nicht einmal fünfzig. Wer würde in seiner Lage nicht genauso handeln? Wer würde nicht um sein Leben kämpfen?
Die Mädchen – sie hatten gekämpft, nach Atem gerungen. Es hatte ihm sehr leidgetan, ihnen das anzutun. Aber wenn sie weitergelebt hätten, hätten sie ihn verraten, und das erschien ihm ungerecht. Es war nicht seine Schuld. Es
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