Denn mein ist deine Seele: Psychothriller (German Edition)
ihre Tochter vergessen hatte. Man erinnerte sich an das Verbrechen, nicht an das Opfer. Walters Hinrichtung würde die letzte Gelegenheit sein, die Welt an dieses eine verlorene Leben zu erinnern.
An mehrere Leben, sagte Trudy sich. Es gab ein weiteres Mädchen, Maude, vielleicht noch mehr. Wenn sie ganz am Boden war, versuchte Terry sie damit zu trösten, dass andere Frauen noch mehr gelitten hatten, dass sie nicht einmal wussten, was mit ihren Töchtern geschehen war. War es schlimm, dass Trudy das scheißegal war?
Meist gestand sie sich vier Runden zu, die an dem Haus vorbeiführten. So weit konnte jemand durchaus laufen, um sich Bewegung zu verschaffen. Hier ging sie schneller als in Alexandria, das Laufen hatte für sie viel mehr Sinn und Zweck. Aber sie konnte nie jemanden entdecken, der das Haus betrat oder verließ. Hatte ihre Nachricht sie verscheucht, versteckten sie sich? Nein, das Haus wirkte voller Leben. Übervoll von Leben.
Heute beschloss sie bei ihrer dritten Runde, etwas zu tun, das sie noch nie gewagt hatte. Sie ging zur Haustür und klopfte. Irgendwo im Haus lief ein Fernseher, offensichtlich war jemand da, aber es kam ihr wie eine Ewigkeit vor, bis sich knarrend Schritte näherten. Dann wurde sie durch den Türspion gemustert.
»Sie da drin«, sagte sie. »Ich weiß, dass Sie da sind. Jetzt machen Sie schon auf und reden Sie mit mir, Elizabeth Lerner.«
Die Tür wurde geöffnet, einen Spaltbreit nur, und um in die Augen dahinter zu sehen, musste Trudy deutlich den Blick senken. Braune Augen in einem sonnengebräunten Gesicht. Dem Gesicht eines Mädchens.
»Haben Sie sich vielleicht mit dem Haus vertan? Meine Mutter hieß mit Mädchennamen Lerner, aber sie wird immer Eliza genannt.«
O nein, nicht immer.
»Richtig«, sagte Trudy. »Aber alte Lehrerinnen sind doch eher förmlich.«
»Sie sind eine Lehrerin von meiner Mutter?«
»Ja, von der …« Erstaunlich, was das Gedächtnis unter Druck zutage förderte, all die Details über Elizabeth Lerner, die sie schon immer gekannt hatte. »… der Catonsville Middleschool. Sie war eine meiner besten Schülerinnen.«
Das Mädchen runzelte missmutig die Stirn, von den Leistungen seiner Mutter hörte es offenbar nicht gern.
»Na ja, bei Prüfungen war sie gut. Mit ihren Hausaufgaben und Abgabefristen hat sie es nicht so genau genommen.«
»Sind Sie sicher, dass Sie nicht Tante Vonnie meinen? Sie ist die Klügere. Meine Mutter sagt, sie wäre gerade so durchgekommen.«
Allerdings. »Deine Mutter war schon immer bescheiden. Ist sie zu Hause? Darf ich reinkommen?«
»Sie …« Das Mädchen rang mit sich. Ihre Mutter war nicht zu Hause, aber das sollte sie niemandem sagen. Wahrscheinlich sollte sie Fremden nicht die Tür öffnen. »Sie musste zu meiner Schule fahren, aber sie ist bald wieder da. Jeden Moment.«
Ein Hund streckte leise knurrend die Schnauze durch den Türspalt. Trudy hielt ihm die geballte Faust zum Schnuppern hin.
»Aus, Reba.«
»Ist das dein Hund?«
»Nein, eigentlich nicht. Ich hätte einen besseren ausgesucht.«
»Darf ich hereinkommen und auf deine Mutter warten? Ich bin nicht oft in der Gegend, es wäre schade, wenn ich sie verpasse.«
»Ich weiß nicht …«
»Ruf sie an, wenn du willst. Sag ihr, Mrs. Tackett hat vorbeigeschaut.«
»Ach, Mrs. Tackett. Sie haben doch den Zettel dagelassen. Ich dachte, meine Mom hätte erzählt, dass sie mit Ihrer Tochter zur Schule gegangen ist.«
Das tat weh, aber darauf achtete Trudy nicht, denn jetzt stand ihr die Tür weit offen.
Kapitel 38
Von allen Problemen, die sich mit dem Anruf der Schule auftaten, warf Eliza ausgerechnet die Frage nach der Logistik aus der Bahn, zumindest als sie im ersten Moment zu begreifen versuchte, was sie da hörte. Iso wurde beim Stehlen erwischt und ist ab sofort vom Unterricht suspendiert. Was hieß, dass Eliza sie von der Schule abholen und um zwei Uhr zu einem Gespräch noch einmal hinfahren musste, aber weil sie es dadurch nicht pünktlich zu Albie schaffen würde, müsste sie für ihn einen Spielenachmittag bei einem Freund organisieren. Und das war schwierig, denn sie kannte die Mütter von Albies Freunden kaum. Verzweifelt tat sie etwas, was sie sich nie hätte träumen lassen: Sie holte Albie früher ab, parkte ihn in der Kinderabteilung von Barnes & Noble in Rockville Pike und schärfte ihm ein, dass er dort sitzen bleiben, ein Buch lesen und mit niemandem reden sollte. Falls ihn jemand fragen sollte, wo seine Mutter war, sollte er
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