Denn mein ist deine Seele: Psychothriller (German Edition)
offiziellen Dokumenten, Zeitungsberichten und Zeugenaussagen bezogen hatte, in denen selten Spitznamen benutzt wurden. In den neununddreißig Tagen mit ihm war ihr Vonnies Name nicht über die Lippen gekommen. Falls er gleich versuchte, sie mit den Namen ihrer Kinder zu verunsichern, würde er sie wahrscheinlich Isobel und Albert nennen. »Das ist mein Deputy, er heißt auch Walter, aber ich schätze, ihr könnt uns auseinanderhalten. Kleiner Tipp: Er ist der mit der Waffe.«
Walters neuer Sinn für Humor. Der Deputy war ein breitschultriger Schwarzer und irrsinnig groß, mindestens einen Kopf größer als Eliza.
»Wir kennen uns schon«, sagte Deputy Walter mit einer trägen, honigsanften Stimme, die auch in Andy Griffiths Stadt Mayberry gepasst hätte, wenn man in Mayberry riesige schwarze Deputys angestellt hätte.
»Willst du einen Stuhl haben?«, fragte Walter, ihr Walter.
»Nein, den brauche ich nicht.«
»Es könnte länger dauern.«
»Du stehst auch.«
»Weil ich keinen Stuhl ans Gitter ziehen kann. Ich würde es tun, wenn ich könnte. Aber das ist ja kein Grund, dass es für uns beide unangenehm ist.«
Kein Stuhl der Welt könnte mir die Situation angenehmer machen.
»Ist schon gut.« Sie sah, wie Vonnie eine Hand in eine tiefe Tasche ihrer übertrieben eleganten Jacke gleiten ließ, neben der Elizas Vorstadtmutterkluft aus Stoffhose und Pullover noch hausbackener wirkte. Die Taschen boten einen Vorteil: Vonnie schaltete gerade ein Diktiergerät ein.
»Du siehst großartig aus, Elizabeth.« Es schmerzte, ihren ganzen Namen aus Walters Mund zu hören. »Aber ich kannte ja schon dein Foto, ich wusste, wie du aussiehst. Wie sehe ich aus?«
»Gut«, antwortete sie. Er wollte mehr hören. »Fit.«
»Ich bin erst sechsundvierzig. Wir können hier kaum Sport treiben, aber man kann erstaunlich viel in einer Zelle machen, ganz ohne Geräte, nur mit dem eigenen Körper. Barbara hat mich zu Yoga gebracht. Ich bin nicht sonderlich gelenkig, aber stark – ich zeige es dir.« Zu Elizas Überraschung – und offenbar zum Schrecken des Deputys, der plötzlich ziemlich angespannt wirkte – drückte Walter die Handflächen auf den Boden und beugte sich vor, bis die angewinkelten Knie auf den Ellbogen ruhten und die Füße in der Luft schwebten; er balancierte das ganze Gewicht auf den Armen.
»Die Krähe«, sagte er, während er mühelos in der Haltung verharrte. »He, bist du für die Ravens oder die Redskins?«
»Was?«
»Du bist doch in Baltimore und Umgebung aufgewachsen« – und Umgebung – »und wohnst jetzt in der Nähe von Washington, deshalb dachte ich gerade, für welches Football-team du wohl bist.«
»Walter, das ist wohl kaum der richtige Moment für Small Talk.«
»Ach, so soll es laufen?« Er stand auf und wischte sich die Handflächen ab, wirkte aber nicht sichtlich beleidigt. Eher erleichtert, beinahe ausgelassen. »Na gut, aber bevor es ans Eingemachte geht, wie man so sagt, müssen wir noch über etwas anderes reden. Über die Nacht, in der Holly gestorben ist. Und was danach war.«
Sie warf dem Deputy einen Blick zu, der höflich so tat, als wäre er gar nicht wirklich zugegen, als würde er sie nur beobachten, weil es seine Aufgabe war, aber keinerlei Anteil nehmen. »Ich …« Sie sah Vonnie an, die ihre Notlage verstand, aber keine Lösung anbieten konnte.
»He, Walter?« Das rief der Walter hinter Gittern dem Walter hinter dem Schreibtisch zu.
»Ja, Walter?«
»Musst du hören, worüber wir gleich reden?«
»Ich muss zusehen. Das weißt du. Das muss sein.«
»Zusehen ist in Ordnung. Aber musst du auch zuhören?«
Nach kurzem Überlegen nickte der Deputy, holte einen MP 3-Player aus seiner Schreibtischschublade und steckte sich die Hörer in die Ohren. Eliza erkannte die Musik nicht, aber der Player lief so laut, dass sie ein blechernes Brummen hörte. Dabei ließ der Deputy sie nicht aus den Augen, was Eliza nur recht war.
»Jetzt du«, sagte Walter und deutete mit einer Kopfbewegung auf Vonnie.
»Aber …?«
»Nur wir beide. Das ist nicht verhandelbar. Sie kann bleiben, wo das Gefängnis es meint, aber nicht hier.«
Die Schwestern tauschten einen Blick aus, sahen aber keinen Ausweg. Vonnie hatte das Diktiergerät extra in ihrer Jacke versteckt, damit der Deputy ihre Handtasche vor Walters Augen durchsuchen konnte. Beim Hereinkommen waren ihre Taschen ganz demonstrativ untersucht worden. Jetzt mussten sie auf die Aufnahme verzichten. Vonnie klopfte an die Tür und wurde
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