Denn mein ist deine Seele: Psychothriller (German Edition)
verschwunden war, würde Elizabeth vielleicht herausfinden, was sie selbst gut konnte, wofür sie Talent besaß. Ihre Eltern behaupteten beharrlich, sie habe Talente, sie müsse sich nur konzentrieren. Doch bisher hatte sie durch das Konzentrieren bloß eine erstaunliche Begabung entdeckt: beim Blumengießen für fremde Leute, die in diesem langen, langweiligen Sommer Glück hatten und verreisen konnten, schmutzige Bücher auszugraben. Erica Jong und Henry James und in einem Haus, versteckt hinter der Encyclopedia Britannica , den kompletten Ian Fleming. Der Spion, der mich liebte – das war schon was anderes als der Film.
Sie verließ das Haus ohne ein bestimmtes Ziel im Sinn, aber die einzigen Orte, die sie interessiert hätten, waren ihr ohnehin ausdrücklich verboten. Ihre Eltern hielten Roaring Springs, den Ort, in dem sie wohnten, für etwas Besonderes, aber Elizabeth fand ihn einfach sterbenslangweilig. Roaring Springs bestand aus nicht mehr als ein paar alten Steinhäusern, Überresten eines alten Industriestädtchens aus dem neunzehnten Jahrhundert, nur gut einen Kilometer von der belebten Frederick Road entfernt. Aber weil ihr Grundstück an einen State Park mit dichtem Wald grenzte, konnte niemand in ihrer Nähe bauen. Die Abgeschiedenheit gefiel ihren Eltern, und selbst Vonnie beklagte sich nie über ihr schrulliges Steinhaus inmitten von anderen schrulligen Steinhäusern, in denen größtenteils Menschen wie ihre Eltern lebten, allerdings ohne Kinder. Ganz Roaring Springs gab sich entschlossen exzentrisch und war stolz darauf, man kümmerte sich nicht um Trends oder Modeerscheinungen. Und jeder behauptete, er würde das Fernsehen verabscheuen. Sie hatten auch gut reden: Die Bezirksverwaltung hatte noch kein Kabel verlegt, weshalb Elizabeth MTV oder VH -1 nur sehen konnte, wenn sie nach der Schule Freundinnen besuchte. Sie fragte sich allerdings, woher ihre Mutter genug über Madonna wusste, um etwas gegen sie zu haben. In der Praxis ihres Vaters lagen Hochglanzmagazine für die Eltern, die im Wartezimmer blieben, während er mit ihren Kindern sprach, aber sie glaubte nicht, dass es bei ihrer Mutter auch Zeitschriften gab. Natürlich hatte Eliza sie nie besuchen dürfen, weil sie im Staatsgefängnis arbeitete.
Bei einer kleinen, altmodischen Familienkonditorei auf der Frederick Road blieb Eliza stehen und betrachtete die Leckereien im Schaufenster. Vonnie hatte vor ein paar Tagen gesagt, Elizabeth wäre zwar dünn und flach wie ein Brett, aber sie würde zu einem Speckbauch neigen und sollte lieber aufpassen. Das Problem mit Vonnie war, dass sie manche Sachen nur aus Bosheit sagte, während andere zwar gemein waren, aber stimmten, und es war schwer, beides auseinanderzuhalten. Elizabeth drehte sich zur Seite, strich ihr T-Shirt glatt und musterte ihren Bauch. Sie fand ihn ganz in Ordnung. Es hätte besser ausgesehen, wenn sie Brüste gehabt hätte, richtige Brüste statt dieses Nichts im A-Körbchen. Richtige Brüste hätten ihr passende Proportionen verliehen. Aber heute war sie zufrieden mit ihrem Aussehen. Sie starrte auf die Auslage der Konditorei und überlegte hineinzugehen, aber das Problem war, dass sie alles haben wollte: die feinen Waffelkekse, die raffinierten rosa-grünen Plätzchen, die Cannoli, die Liebesknochen. In letzter Zeit wurde sie nie satt, egal was sie aß. Theoretisch hätte sie von jeder Sorte etwas kaufen, es essen und sich dann übergeben können, aber den Teil mit dem Übergeben hatte sie trotz aller Tipps und Ermutigungen von Seiten ihrer Freundinnen bislang nicht geschafft.
Sie ging weiter die Frederick Road entlang und versuchte, ihr Spiegelbild in den Fenstern zu entdecken. Elizabeth wollte wissen, wie sie aussah, wenn niemand hinblickte. Sie wollte über sich selbst stolpern, wie zufällig, ihr Spiegelbild überrumpeln, aber diesen Trick musste sie noch üben. Sie war sich immer einen Sekundenbruchteil voraus, und das Gesicht, das sie dann sah, war zu gefasst: der Mund verzogen zu einem, wie sie hoffte, schüchternen und dadurch anziehenden Lächeln, das Kinn gesenkt, um ihre Nase und die Nasenlöcher zu kaschieren, die sie absolut scheußlich fand. »Schweinenase« hatte Vonnie gesagt, und der Name war hängen geblieben, obwohl ihre Mutter meinte, sie hätte eine Stupsnase. Als sich Elizabeth von ihrer Mutter zum sechzehnten Geburtstag eine Nasenoperation gewünscht hatte, hatte es ihrer Mutter im ersten Moment die Sprache verschlagen, was an sich schon ein
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