Denn mein ist deine Seele: Psychothriller (German Edition)
außergewöhnlichen Kindern gehört, die einfach zufrieden vor sich hin lebten. Ihre Noten waren gut, und sie beteiligte sich fröhlich an Gruppenaktivitäten, bei denen sie sich weder hervortat noch blamierte. Unweigerlich wurde von Außenstehenden, aber auch von Inez und Manny, von Vonnie und sogar von Eliza selbst spekuliert, das sei nicht ihrem angeborenen Temperament zuzuschreiben, sondern eine außergewöhnliche, unterbewusste Entscheidung, sich aus allem herauszuhalten: Sollte Vonnie ruhig die Preise und Ehrungen bekommen, sogar die ganze Welt, wenn sie wollte.
Außerdem spielte Eliza schon als kleines Mädchen für ihre große Schwester bereitwillig die gehorsame Sklavin, was die klassische Rivalität unter Geschwistern wahrscheinlich aushebelte. Gutmütig nahm sie jede Folter hin, die ihre Schwester in frühen Jahren für sie erdachte. Als Neugeborene weinte sie noch, wenn Vonnie sie kniff, was die frischgebackene große Schwester bei jeder sich bietenden Gelegenheit tat. Aber sobald Eliza laufen konnte, folgte sie ihrer Schwester überallhin, und nicht einmal Vonnie konnte lange auf jemanden böse sein, der sie so offensichtlich anhimmelte.
Dafür konnte sie offenbar einen erstaunlichen, brodelnden Groll darüber hegen, wie das Unglück ihrer Schwester die Familiendynamik verändert hatte.
»Würdest du mit Eliza tauschen wollen?«, fragte ihr Vater Vonnie nach der unsäglichen Bemerkung.
Eliza war gespannt, was ihre große Schwester antworten würde. Als sie noch Elizabeth gewesen war, hätte Vonnie eindeutig nicht mit ihr tauschen wollen, deshalb war die Vorstellung seltsam, sie könnte es jetzt wollen. Und wenn doch? Was würde das bedeuten?
»So habe ich das nicht gemeint«, antwortete Vonnie. Ihre Wut war verraucht, regelrecht verpufft vor Verlegenheit. »Ich wollte nur sagen, dass wir jetzt kaum etwas machen können, das nicht von dem kontrolliert und beeinflusst wird, was … was passiert ist.«
»Na ja, das trifft auf Eliza zu, deshalb finde ich es richtig, wenn es auch auf uns als Familie zutrifft«, sagte ihr Vater. »Es ist uns allen passiert. Nicht das Gleiche natürlich – was Eliza erlebt hat, war eine einzigartige Erfahrung, und was deine Mutter und ich erlebt haben, war das auch. Und du hast genauso etwas Einzigartiges erlebt, als du zur Uni gefahren bist, noch bevor es vorüber war.«
Manny achtete stets darauf, möglichst neutrale Wörter zu benutzen – erlebt , nicht erlitten oder auch nur durchgemacht . Das tat er nicht, weil er zu Euphemismen neigte, sondern weil er und Inez nicht Elizas Leben definieren wollten. »Wenn es um dich geht, bist du die Expertin«, sagte ihr Vater oft. Eliza fand das extrem tröstlich, es war ein überraschendes Geschenk von ihren Eltern, die mit ihrem Wissen, ihrer Ausbildung und Erfahrung die Expertenrolle hätten übernehmen können, wenn sie es gewollt hätten. Wahrscheinlich kannten sie Eliza in manchen Dingen wirklich besser als sie sich selbst, aber sie wollten diese Macht nicht beanspruchen. Manchmal wünschte sich Eliza, sie würden es tun oder ihr zumindest ab und zu einen Wink geben.
»Ich hätte auch später mit der Uni anfangen können«, erinnerte Vonnie ihren Vater. Das stimmte. Sie hatte angeboten, den Studienbeginn an der Northwestern zu verschieben, wenn auch eher halbherzig, und ihre Eltern hätten vielleicht einen Teil der Studiengebühren verloren. Außerdem unterschieden ihre Eltern auch nach Elizas Rückkehr zwischen echten Problemen, wie sie es nannten – Elizas Bedürfnis, das Haus nachts abgeriegelt zu wissen, nicht einmal ein Fenster durfte offen stehen, auch nicht in den schönsten Frühlingsnächten –, und vorgeschobenen Gründen oder Versuchen, sich mit ihrer Vergangenheit einen unfairen Vorteil zu verschaffen.
Dabei neigte eher Vonnie dazu, sich durch ihre Schwester Aufmerksamkeit zu sichern. Zu viel erzählte sie ihren neuen College-Freunden natürlich nicht. Aber sie deutete eine schreckliche Tragödie an, ein unvorstellbares Ereignis, das es in die landesweiten Nachrichten geschafft hatte. Vielleicht blieb sie in ihren Anspielungen zu grob. Wenn in den nächsten Jahren Vonnies College-Freundinnen zu Besuch kamen, waren sie sichtlich überrascht, eine scheinbar normale Highschool-Schülerin zu sehen, mit allen Gliedmaßen und ohne offenkundige Entstellungen. Wenigstens eine hatte geglaubt, Eliza sei eine junge Flötistin und hätte einen Arm verloren, weil sie jemand vor eine U-Bahn gestoßen hatte.
»Weißt du
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