Denn mein ist deine Seele: Psychothriller (German Edition)
und weil die anderen den Besuch in der Bäckerei ohne sie nicht genießen konnten, suchten sie hektisch nach ihr. Sie fanden sie in einem Lagerraum voller Mehlsäcke, und sie war so platt, als hätte sie jemand zu einem Lebkuchenmädchen ausgerollt – und ihr die Beine weggenommen.
»Sie hatte keine Beine mehr?«
Albie nickte schuldbewusst, als könnte man den Traum als Beweis für zwiespältige Gefühle seiner erfolgreichen Schwester gegenüber interpretieren, die mühelos Anschluss an eine Gruppe Gleichgesinnter gefunden hatte, während er sich immer noch um neue Freunde bemühte. Aber Eliza glaubte nicht, dass Albie irgendwelche zwiespältigen Gefühle hegte. Er liebte Iso, er wollte sein wie sie. Nie hätte er ihr etwas angetan, nicht einmal in seiner Fantasie. Er machte sich ernsthaft Sorgen, ihr könnte etwas zustoßen. Was wusste oder vermutete Albie über seine Schwester? Wusste er mehr als Eliza? Oder spiegelte er nur ihre Ängste wider?
»Machst du dir Sorgen um Iso? In Wirklichkeit, nicht im Traum?«
Albie dachte nach. »Nein, ich mache mir nie Sorgen um sie. Sie sich auch nicht um mich, glaube ich. Manchmal fände ich das schön.«
Das war interessant. »Wie meinst du das?«
»Es wäre nett, wenn sie mal fragen würde, wie es in der Schule war oder wie es mir geht.«
»Fragst du sie denn?«, wollte Eliza wissen.
»Ja. Machen wir alle. Nur Iso nicht. Du fragst Papa, Papa fragt dich, und ihr beide fragt mich und Iso auch, aber Iso fragt nie irgendwen irgendwas.«
»Sie ist …«, setzte Peter an.
»In der Pubertät«, beendete Albie den Satz für ihn. »Das sagst du ständig, aber was heißt das?«
»Das ist mitten in der Nacht etwas schwer zu beantworten«, sagte Peter.
»Es ist noch nicht mal Mitternacht«, widersprach Albie. Ihr kleiner Träumer nahm die Dinge manchmal sehr wörtlich.
»Na gut, sagen wir so«, antwortete Peter. »In der Pubertät passiert so viel im Körper, dass man eine Zeit lang etwas anders ist als sonst.«
Albie überlegte. »Wie bei einem Transformer?«
»So ähnlich, aber nur innerlich. Es ist anstrengend, so schnell so viel zu wachsen. Deswegen ist Iso manchmal so mürrisch.«
»Sie ist immer mürrisch.«
Eliza hätte Iso gern verteidigt, aber Albie hatte recht. Sie war immer mürrisch. Es war traurig, das laut zu hören und zugeben zu müssen, dass Iso nicht nur launisch war. Bei ihr gab es, zumindest zu Hause, nur eine Laune: knurrig und nörgelig.
»Willst du heute Nacht bei uns schlafen?«, fragte sie stattdessen, obwohl das für die beiden Erwachsenen eine beengte, schlaflose Nacht bedeutet hätte, zumal sich Reba in letzter Zeit gern in ihr Bett schlich.
»Nein, dazu bin ich zu groß«, antwortete Albie. »Aber kann ich das richtige Licht anlassen?« Mit dem richtigen Licht meinte er seine Nachttischlampe statt des Nachtlichts, das ihm den Weg zu seinem und Isos Badezimmer auf dem Flur wies. Im Schimmer der richtigen Lampe ließen sie ihn allein. Er schlief schon, bevor sie die Schwelle überquerten, aber Eliza ging nicht zurück, um die Lampe auszuschalten. Falls er noch einmal wach wurde, würde es wichtig für ihn sein, dass die Lampe noch brannte und sie ihr Versprechen gehalten hatten.
»Das ist meine Schuld«, sagte Eliza unten im Wohnzimmer. »Er ist so sensibel, dass er merkt, wie nervös und angespannt ich in letzter Zeit bin.«
»Könnte sein. Oder es ist nur ein Zufall.«
»Vielleicht hat er den Brief gelesen«, sagte sie zerknirscht, als würde ihre Unachtsamkeit auf unterbewusste Absichten hindeuten.
»Was?«
Sie erklärte, wie sie den Brief aus den Augen verloren hatte, und erzählte von Albies Bild auf der Rückseite. »Ehrlich gesagt mache ich mir Sorgen, dass Iso den Brief in den Papierkorb geworfen hat. Oder ich war es selbst, weil ich vergessen habe, was ich in der Tasche hatte. Sie schnüffelt gerne herum. Neulich hat sie meine Handtasche durchsucht und Gott weiß, was noch.«
»Na gut, aber es ist doch so«, sagte Peter, schenkte sich ein Glas Wein ein und setzte für sie den Teekessel auf. Hinter den Töpfen und Pfannen kramte er eine Packung teurer Kekse hervor, die Eliza gehamstert hatte. Sie gehörten zu den wenigen Dingen, die sie nicht mit den Kindern teilten, weil die beiden sie zu achtlos und zu schnell in sich hineinstopften. »Wenn einer von beiden den Brief gelesen hätte, könnte er das nicht lange vor dir geheim halten. Nicht einmal aus Angst, er würde Ärger bekommen, weil er geschnüffelt hat. Besonders Albie
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