Denn nie bist du allein - Crombie, D: Denn nie bist du allein - In a Dark House
die inzwischen vertraute Strecke zwischen dem Polizeirevier in der Borough High Street und der Park Street fuhr, warf Gemma einen Blick auf die Uhr am Armaturenbrett und stöhnte leise auf. Es war schon weit nach Mittag. Sie sollte längst zu Hause sein; die Jungen waren sicher schon von ihrem Ausflug mit Wesley zurück, und sie hatte das ganze Wochenende verstreichen lassen, ohne dass sie irgendwelche Vorbereitungen für die nächste Woche hätte treffen können. Und morgen würde sie auch kaum Zeit dafür finden, da sie vorhatte, sich den Nachmittag für die Anhörung freizunehmen.
»Alles okay mit Ihnen?«, fragte Doug Cullen vom Beifahrersitz aus.
»Die Jungs sind jetzt wahrscheinlich allein zu Hause. Ich hatte eigentlich nicht vor, sie den ganzen Tag sich selbst zu überlassen.«
»Wenn Sie nach Hause müssen, dann fahren Sie nur«, erwiderte er verständnisvoll. »Ich übernehme die Hausdurchsuchung und warte anschließend dort auf Duncan. Niemand kann verlangen, dass Sie sich in dem Fall noch mehr engagieren …«
»Und wenn es nach Detective Inspector Bell ginge, sollte ich überhaupt die Finger davon lassen.« Sie milderte ihre Worte mit einem Lächeln ab. »Ich kann es ihr nicht verdenken.« Trotzdem, sie war derart offene Anfeindungen von anderen Polizeibeamtinnen nicht gewohnt, und sie war überrascht, wie viel es ihr ausmachte.
»Sie ist eigentlich ganz in Ordnung«, sagte Doug ruhig. »Wenn man sie mal ein bisschen besser kennt.«
Als sie ihn von der Seite ansah, betrachtete er höchst konzentriert die Flecken auf ihrer Windschutzscheibe. Gemma glaubte sich zu erinnern, dass er dasselbe schon einmal über Stella Fairchild-Priestly gesagt hatte, nur mit weniger Überzeugung.
»Sie hatten an diesem Wochenende sicher auch nicht allzu viel Zeit für Stella«, bemerkte sie, da sie ihre Neugier nicht unterdrücken konnte.
»Sie ist weggefahren. Wieder so eine Landhausparty.« Doug wich ihrem Blick aus. »Und ich bin wahrscheinlich wieder mal in Ungnade gefallen, weil ich nicht mitgekommen bin.«
Gemma hatte sich immer schon gefragt, was die mondäne Stella an einem bescheidenen Sergeant der Kripo fand, der ihren gesellschaftlichen Ehrgeiz nicht teilte, doch falls er sich nun für die kratzbürstige Maura Bell zu interessieren begann, würde er vielleicht feststellen müssen, dass er vom Regen in die Traufe geraten war. »Doug«, sagte sie und wollte gerade zu der obligatorischen Warnung vor den Tücken von Beziehungen am Arbeitsplatz ansetzen, als ihr klar wurde, wie absurd das gerade aus ihrem Munde klingen müsste. Außerdem arbeiteten Doug und Maura ja normalerweise nicht zusammen an einem Fall – und wer konnte mehr Verständnis für die besonderen Anforderungen ihrer Arbeit aufbringen als jemand, der selbst bei der Kripo war?
Da sie inzwischen in der Park Street angelangt waren, hielt Gemma vor Laura Novaks Haus und sagte stattdessen: »Ich möchte trotzdem mit Ihnen reingehen, Doug, wenn auch nur kurz. Aber danke für das Angebot.« Sie hatte sich jetzt schon zu sehr in dem Fall engagiert, als dass sie freiwillig darauf verzichtet hätte, sich selbst ein Bild zu machen und nachzusehen, ob das Haus irgendwelche Hinweise auf das Schicksal von Laura und Harriet Novak enthielt.
Und sie konnte auch nicht nach Hause fahren, ohne vorher
noch etwas anderes erledigt zu haben. Irgendjemand musste Fanny Liu sagen, dass ihre Mitbewohnerin am Leben war – und dass sie möglicherweise ein Kind entführt hatte.
Gemma klingelte an der Tür, dann verharrte sie reglos und lauschte. Es war dunstig, kein Lüftchen regte sich, und ringsum war alles ruhig, als ob die Nachbarn allesamt in frischere Gefilde entschwunden wären. Sie hörte das Rascheln von Dougs Jacke, als er neben ihr von einem Fuß auf den anderen trat, und den schnellen Rhythmus ihres eigenen Atems, aber aus der Wohnung drang kein Laut. Im Nebenhaus waren alle Vorhänge zugezogen.
Gemma zog sich ein Paar Latexhandschuhe über, steckte den Schlüssel ins Schloss und rief gleichzeitig: »Polizei! Wir kommen jetzt rein!« Als Antwort hörte sie nur das Echo ihrer eigenen Worte, wie ein Fremdkörper in der bedrückenden Stille, und sie kam sich ein klein wenig albern vor.
Die Tür ließ sich ohne Mühe öffnen, und sie traten in die Diele. Die Luft roch verbraucht und ein wenig muffig, als ob seit einigen Tagen niemand mehr im Haus gewesen wäre, aber nicht, wie sie insgeheim befürchtet hatte, nach Verwesung.
Gemma atmete erleichtert aus.
Weitere Kostenlose Bücher