Denn nie bist du allein - Crombie, D: Denn nie bist du allein - In a Dark House
schmutzige Geschirr in der Spüle, die hastig abgestreiften Schuhe, die ungeöffnete Post, all die kleinen, verräterischen Spuren eines jäh unterbrochenen Lebens. »Weil Laura Novak nicht mit ihrer Tochter davongelaufen ist«, sagte sie. »Weil Laura Novak, als sie am Donnerstagabend dieses Haus verließ, die feste Absicht hatte, zurückzukommen.«
»Wir müssen reden«, lautete die Nachricht von Kincaid, die Gemma eine Stunde später vernahm, als sie ihre Mailbox abhörte. »Ruf mich zurück, dann können wir uns irgendwo treffen … Wie wär’s mit dem Anchor in der Bankside?«
Gemma stand neben ihrem Wagen in der Ufford Street; sie hatte gerade einen aufreibenden Besuch bei Winnie und Fanny Liu hinter sich. Als sie Fanny gesagt hatte, dass Elaine Hollands DNA nicht mit der des Opfers aus dem abgebrannten
Lagerhaus übereinstimmte, hatte Fanny die Hand vor den Mund geschlagen und einen erstickten Schluchzer der Erleichterung ausgestoßen.
Aber das Gefühl war bald der Bestürzung gewichen, als Gemma ihr so schonend wie möglich beigebracht hatte, dass Elaine Holland möglicherweise die zehnjährige Harriet Novak entführt hatte. Sie erzählte ihr, wie Ms. Holland sich als die mysteriöse »Beth« ausgegeben hatte, wie sie die Affäre mit Tony Novak angefangen und später eingewilligt hatte, ihm bei der Flucht mit seiner Tochter zu helfen, und wie sie dann am Freitagmorgen zusammen mit Harriet verschwunden war.
Während Gemma sprach, schien Fanny Liu immer weiter in sich zusammenzusinken; sie schüttelte stumm den Kopf und vergrub die Hände in dem Schal in ihrem Schoß. »Nein«, flüsterte sie, als Gemma geendet hatte. »Nein. Das glaube ich nicht. Ich glaube nichts davon. Sie war … Wir waren … Ich dachte, wir wären … glücklich.«
»Ich fürchte, es sind kaum Zweifel möglich. Tony Novak hat Elaine Holland auf dem Foto identifiziert. Es erklärt so vieles, unter anderem auch, wieso sie in der Nacht von Donnerstag auf Freitag das Haus verlassen hat, ohne Ihnen Bescheid zu sagen.« Gemma ergriff Fanny Lius kalte Hand und hielt sie eine Weile. Unter ihren Fingern fühlten die Knochen sich so zart und zerbrechlich an wie die eines Vogels. »Können Sie sich vorstellen, was sie dazu gebracht haben könnte, ein Kind zu entführen? Oder wohin sie gegangen sein könnte?«
»Nein. Ich – nein. Nein, ich habe keine Ahnung.«
»Hat Sie jemals erwähnt …«, begann Gemma, doch sie brach ab, als sie sah, wie Winnie kaum merklich den Kopf schüttelte. »Es tut mir Leid«, sagte sie stattdessen und drückte Fanny Liu noch einmal die Hand, ehe sie sie losließ. »Ich weiß, es ist ein Schock für Sie. Wir können morgen weiterreden.« Aber noch während sie sprach, nagte die Ungeduld an ihr. Sie wusste, dass Winnie Recht hatte, dass sie Fanny Liu nicht bis
an den Rand ihrer physischen und emotionalen Belastbarkeit treiben durfte. Aber sie wusste auch, dass vielleicht Harriets Leben auf dem Spiel stand und dass niemand Elaine Holland besser kannte als Fanny Liu. »Rufen Sie mich bitte heute Abend an, falls Ihnen noch irgendetwas einfallen sollte«, fügte sie im Aufstehen hinzu.
Fanny Lius Tränen waren versiegt. Das Gesicht, das sie Gemma zuwandte, war so leblos und leer wie eine papierene Hülle, als sie sich mit sichtlicher Anstrengung in ihrem Rollstuhl aufrichtete. »Sie kommt nicht mehr zurück – niemals«, sagte sie mit kalter, glasklarer Stimme. »Sie könnte ebenso gut tot sein.«
Gemma spürte ein Ziehen zwischen den Schulterblättern, wenn sie an Fanny Lius Gesichtsausdruck zurückdachte. Es gab nichts Grausameres, als das Vertrauen anderer zu missbrauchen, und hier hatten sie es gleich mit einem ganzen Netz von Vertrauensbrüchen zu tun. Da war zum einen Laura Novak, die vielleicht ihren Exmann hintergehen wollte; Novak, der dasselbe mit seiner Frau vorgehabt hatte; und Elaine Holland, die sowohl Tony Novak als auch Fanny Liu hintergangen hatte. Aber während die Motive der Novaks immerhin noch nachvollziehbar waren, waren ihr die Gründe für Elaines Handeln immer noch ein Rätsel.
Und wenn es Laura Novak war, die in dem Lagerhaus umgekommen war, wer hatte sie getötet? Wo waren Elaine Holland und Harriet, und was hatte Chloe Yarwood mit alldem zu tun? Denn wenn irgendetwas zweifelsfrei bewiesen war, dann war es die Tatsache, dass Chloe Yarwood in jener Nacht das Lagerhaus betreten hatte.
Kincaid hatte Recht; sie mussten reden.
Um am helllichten Tag ein Feuer zu legen, brauchte
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