Denn nie bist du allein - Crombie, D: Denn nie bist du allein - In a Dark House
Copperfield
Gemma hatte noch nie auf der Südseite des Flusses gewohnt oder gearbeitet und deshalb bisher keinen Anlass gehabt, das Guy’s Hospital zu besuchen. Sie wusste aber, dass die beiden großen Krankenhäuser, das St. Thomas und das Guy’s, früher zu beiden Seiten der St. Thomas Street gestanden hatten, bis Ersteres an seinen heutigen Standort in Lambeth verlegt worden war, um Platz für eine Erweiterung des Bahnhofs London Bridge zu schaffen.
Winnie hatte ihr wärmstens empfohlen, auf jeden Fall einen Blick in die Kapelle zu werfen, und so ging sie, nachdem sie den Wagen in der St. Thomas Street abgestellt hatte, zunächst durch die Toreinfahrt in den viereckigen Innenhof. Dort bot sich ihr ein imposanter Anblick, wenngleich die Symmetrie des Ensembles aus dem achtzehnten Jahrhundert in ihren Augen durch einen in den Sechzigerjahren hinzugefügten Hochhausblock verdorben wurde. Sie nahm sich noch einen Moment Zeit, um die Statue von Sir Thomas Guy in der Mitte des Platzes zu bewundern, und folgte dann einem kleinen Schild zu der Kapelle im rechten Flügel des Gevierts.
Ohne allzu große Erwartungen öffnete Gemma die eher schlichte Eingangstür, doch als sie den Innenraum betrat, stockte ihr vor Entzücken der Atem. Sie hatte das Gefühl, in das Innere eines Fabergé-Ostereis versetzt worden zu sein. Die
cremefarbenen Wände waren mit goldenen und blaugrünen Akzenten verziert, die Buntglasscheiben der Bogenfenster leuchteten wie funkelnde Juwelen, und das warme Holz der einfachen Sitzbänke war im Laufe der Jahrzehnte so blank gescheuert worden, dass es glänzte. In der Luft hing ein leiser Lilienduft.
Die Kapelle war leer, die Stille so intensiv, dass Gemma sie wie eine physische Kraft spürte. Sie stand einfach nur da und ließ sich von ihr durchdringen. Wie viele waren über die Jahre hierher gekommen und hatten Trost gesucht, bedrückt von Kummer und Trauer? Hatten sie gefunden, was sie suchten … oder war die Luft schwer von ihren angesammelten Sorgen?
Gemmas Gedanken schweiften zu den Eltern des vermissten Kindes ab, nach dem sie bisher vergeblich gesucht hatte. Für ihren Verlust konnte es keinen Trost geben, weder hier noch sonst wo. Gemma wandte sich um und trat wieder hinaus in die graue Strenge des Innenhofs.
»Mr. Yarwood, hatten Sie irgendeinen Grund zu der Annahme, dass Ihre Tochter sich in dem Gebäude aufgehalten haben könnte?«, fragte Kincaid. Er erinnerte sich an die Anspannung, die ihm schon vor dem Abspielen des Videofilms in Yarwoods Haltung aufgefallen war.
Sie hatten ihm angeboten, sich zu setzen, und Cullen hatte ihm ein Glas Wasser gebracht. Jetzt nahm Kincaid gegenüber von ihm Platz, während Cullen und Bell sich im Hintergrund hielten. Er konnte sehen, dass Yarwood sich schon fast wieder unter Kontrolle hatte, und er wollte Antworten auf seine Fragen, solange der Mann noch durch den Schock getroffen und verunsichert war.
»Nein, nein, natürlich nicht.« Yarwood setzte den Plastikbecher ab und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. »Es ist nur, weil ich schon einige Tage nicht mehr mit ihr gesprochen habe und mir deshalb ein bisschen Sorgen machte.«
In dem kleinen, schlecht belüfteten Zimmer war es durch die steigenden Außentemperaturen im Laufe des Nachmittags noch stickiger geworden. Kincaid glaubte neben der muffigen Ausdünstung des Gebäudes selbst noch etwas anderes wahrzunehmen – den beißenden Geruch der Angst. »Ihre Tochter wohnt also nicht bei Ihnen?«
»Nein. Chloe teilt sich mit einer Freundin eine Wohnung in der Nähe von Westbourne Grove. Sie ist einundzwanzig, und Sie wissen ja, wie diese jungen Leute sind. Sie hat nun mal ihren eigenen Kopf.«
»Aber Sie telefonieren normalerweise jeden Tag mit ihr?«
»Nein«, antwortete Yarwood wieder. »Aber seit dem Brand habe ich immer wieder versucht, sie zu erreichen. Ich wollte verhindern, dass sie es aus der Zeitung oder aus dem Fernsehen erfährt. Ich dachte, sie würde sich vielleicht Sorgen machen.«
»Haben Sie mit ihrer Mitbewohnerin gesprochen?«
»Nein. Es ist niemand ans Telefon oder an die Tür gegangen. Hören Sie, was dieses Video betrifft … Die Anzeige stand doch auf zweiundzwanzig Uhr, und das Feuer ist erst nach Mitternacht ausgebrochen, also gibt es doch keinen Grund anzunehmen …« Yarwood warf Kincaid einen flehenden Blick zu.
»Mr. Yarwood«, sagte Kincaid sanft, »solange wir keinen Beweis dafür haben, dass Ihre Tochter das Gebäude wieder verlassen hat,
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