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Denn vergeben wird dir nie

Denn vergeben wird dir nie

Titel: Denn vergeben wird dir nie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Higgins Clark
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würde. Am besten suchte ich mir etwas, was mich nicht
allzu teuer zu stehen käme.
    Der backfertige Muffin, den ich am Morgen genießen
durfte, war alles, was ich bisher an diesem Tag gegessen
hatte. Es war mittlerweile zwanzig vor eins, und ich hatte
keine besondere Lust auf ein Sandwich mit Käse, Tomaten
und Salat, das Einzige, was ich meiner Erinnerung nach in
der Wohnung vorfinden würde.
    Ich ging in den Speisesaal und bekam prompt einen Platz
zugewiesen. Im Prinzip handelte es sich um einen Tisch
für zwei Leute, aber der andere Stuhl hätte höchstens Platz
für einen äußerst zierlichen Menschen geboten. Er war
völlig eingekeilt zwischen dem Tisch und einer spitzen
Ecke der Nische, in die man mich platziert hatte. Neben
mir befand sich ein Tisch für sechs Personen, auf dem ein
Reservierungsschild neben Salz- und Pfefferstreuer stand.
    Auf meinen nomadischen Wanderzügen war ich bisher
nur ein einziges Mal in Boston gewesen, als ich an der
Fortsetzung eines Artikels arbeitete. Dieser kurze Besuch
hatte bei mir eine besondere Vorliebe geweckt für die
Spezialität Neuenglands, Fischsuppe mit Muscheln, und
auf der Karte war diese als Tagessuppe aufgeführt.
    Ich bestellte sie, zusammen mit grünem Salat und einer
Flasche Perrier. »Ich hätte die Suppe gern richtig heiß,
bitte«, schärfte ich der Bedienung ein. Während ich auf
das Essen wartete, knabberte ich knuspriges Brot und
dachte darüber nach, warum ich mich so unruhig und
sogar niedergeschlagen fühlte.
    Es war nicht so schwer zu begreifen. Als ich vor ein paar
Wochen hierher kam, war ich mir wie eine Art weiblicher
Don Quichotte vorgekommen, der gegen Windmühlen
anzukämpfen hatte. Aber die ernüchternde Wahrheit war,
dass nicht einmal die wenigen Menschen, von denen ich
gedacht hatte, sie seien ebenso fest wie ich von Rob
Westerfields Schuld überzeugt, auf meiner Seite standen.
    Sie kannten ihn. Sie wussten, was für ein Mensch er war.
Und dennoch hielten sie es für absolut möglich, dass er
über zwanzig Jahre als Unschuldiger im Gefängnis
verbracht hatte, dass er ebenfalls ein Opfer dieses
Verbrechens war. Obwohl sie Mitgefühl für mich
empfanden, nahmen sie mich als die von ihren Erlebnissen
traumatisierte Schwester des toten Mädchens wahr, im
besten Fall hielten sie mich für fixiert und vernünftigen
Argumenten nicht zugänglich, im schlimmsten Fall für
manisch und nicht ganz normal.
    Mir ist bewusst, dass ich in gewisser Weise arrogant bin.
Wenn ich glaube, dass ich Recht habe, dann können auch
alle Mächte dieser Erde mich nicht davon abbringen.
Vielleicht bin ich aus diesem Grund eine gute investi
gative Journalistin. Ich besitze den Ruf, fähig zu sein,
Vertuschungsversuche sofort zu durchschauen, klipp und
klar zu erfassen, wo die Wahrheit liegt, und dann den
Sachverhalt eindeutig zu beweisen. Und während ich die
Stimmung dieses Speisesaals in mich aufnahm, in dem ich
vor langer Zeit als die Jüngste einer glücklichen Familie
gesessen hatte, versuchte ich, schonungslos ehrlich zu
sein. War es möglich, bestand auch nur die entfernte Möglichkeit, dass derselbe Antrieb, der mich zu einer
guten Reporterin machte, sich jetzt gegen mich selbst
auswirkte? Tat ich nicht nur Menschen wie Mrs. Hilmer
oder Joan Lashley Unrecht, sondern auch dem von mir
verachteten Rob Westerfield?
    Ich war so tief in meine Gedanken versunken, dass ich
zusammenzuckte, als eine Hand in meinem Gesichtsfeld
auftauchte. Es war die Bedienung mit der Muschelsuppe,
aus der wunschgemäß Dampf aufstieg.
    »Vorsicht«, warnte sie, »die Suppe ist wirklich sehr
heiß.«
Mutter pflegte immer zu sagen, es gehöre sich nicht,
einem Kellner oder einer Kellnerin zu danken, aber diese
Regel habe ich nie eingesehen. »Danke schön« zu sagen,
wenn das Gewünschte vor einem auf den Tisch gestellt
wird, schien mir auf keinen Fall unangemessen zu sein,
und das sehe ich heute noch genauso.
Ich nahm den Löffel in die Hand, doch bevor ich mit
dem Essen anfangen konnte, erschien die Gesellschaft, die
den Nebentisch reserviert hatte. Ich blickte auf, und mein
Atem stockte – Rob Westerfield stand neben meinem
Stuhl.
Ich legte den Löffel wieder hin. Er streckte mir die Hand
entgegen, die ich jedoch ignorierte. Er war ein verblüffend
gut aussehender Mann, in Wirklichkeit sogar noch mehr
als auf dem Bildschirm. Es ging eine Art animalische
Anziehungskraft von ihm aus, ein Suggerieren von Kraft
und

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