Denn Wahrheit musst du suchen
Lucinda die Kontrolle verliert. Aber du wolltest das nicht hören.«
»Moment«, erwiderte Allie. »Deine Eltern sind auf Nathaniels Seite?«
Katie bedachte sie mit einem verärgerten Blick. »Natürlich. Mach dich nicht lächerlich. Schnallst du denn gar nichts?«
»Und was ist mit dir?«, fragte Allie.
Ihre Direktheit schien Katie auf dem falschen Fuß zu erwischen; sie schüttelte so fest den Kopf, dass ihr rotes Haar hin und her flog. »Nein. Niemals.«
»Und was wirst du tun, wenn sie jemanden schicken, um dich abzuholen?«, fragte Rachel.
Katie zögerte mit der Antwort. Schließlich sagte sie gequält: »Ich weiß es nicht. Aber die müssen mich schon umbringen, wenn die mich hier wegkriegen wollen. Ich werde nicht so einfach mitgehen wie Caroline.«
»Würdest du dich wirklich dem Willen deiner Eltern widersetzen?«, fragte Allie überrascht.
Katies Augen glitzerten wie Eiskristalle in der Wintersonne. »Ich verachte meine Eltern, Allie. Mit denen geh ich nirgendwohin. Und dieser schleimige Widerling Nathaniel kann mich mal an meinem perfekten Arsch lecken.«
Ihr kristallklarer Akzent ließ noch die größten Obszönitäten elegant und lustig klingen. Das erinnerte Allie schmerzlich an Jo, und wieder stieg in ihr das Gefühl des Verlusts auf, das sie in den seltsamsten Momenten überfiel, als würde sie in ein unsichtbares Loch fallen.
Sie legte den Kopf schief und musterte Katie anerkennend. Vielleicht hatte sie sie falsch eingeschätzt. Als könnte sie Allies Gedanken lesen, richtete Katie ihren arroganten Blick wieder auf Rachel.
»Und wie kann ich euch behilflich sein, Streberin? Spuck’s aus.«
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Neunzehn
Den ganzen nächsten Tag über wirkten die Gerüchte mit gnadenloser Effizienz. Beim Abendessen gab es nur noch ein Thema: dass wegen der Unstimmigkeiten im Aufsichtsrat zahlreiche Eltern ihre Kinder von der Schule nehmen wollten.
Die meisten Schüler wussten mittlerweile über Nathaniel Bescheid – Gerüchte über ein Zerwürfnis in der Schulleitung kursierten schon lange –, doch die Vorstellung, dass die Spaltung so tief ging, sorgte für Panik.
In dem eleganten Speisesaal sah es aus wie immer – auf den runden Tischen brannten Kerzen, auf jedem Platzdeckchen glitzerte Kristall, schweres Silberbesteck schimmerte im warmen Schein der mächtigen Lüster –, doch die Stimmung war mies.
Auch an diesem Abend ließ sich keiner von den Night-School-Lehrern blicken. Sie hatten schon so lange nicht mehr an einer regulären Mahlzeit teilgenommen, dass Allie sich langsam fragte, ob sie nicht da draußen im Wald verhungerten. Ein Teil von ihr hätte nichts dagegen gehabt.
Auf der anderen Seite des Saals stritten sich lautstark zwei rotgesichtige Jungs, einer schlug wütend auf den Tisch. Ein paar Mädchen in der Nähe waren den Tränen nahe.
Wissen die Lehrer überhaupt, was hier los ist? Ist ihnen klar, dass sie dabei sind, die Kontrolle zu verlieren?
Entgegen den Erwartungen waren an diesem Tag keine weiteren Schüler von der Schule genommen worden – doch das vergrößerte die Furcht nur noch. Alle warteten darauf, dass etwas Schreckliches passierte.
»Was meint ihr, hat Nathaniel vor?«, fragte Carter. »Wenn er wirklich die Hälfte der Schüler aus der Schule nehmen lassen will, wieso ist dann nur eine Schülerin gegangen und nicht mehr?«
»Sollte vielleicht nur eine Warnung sein«, warf Nicole ein.
»Um Isabelle klarzumachen, dass er es ernst meint – und sie dazu zu bewegen, ihm zu geben, was er will«, stieß Rachel ins gleiche Horn. »Er erpresst sie.«
»Das ist doch Zeitverschwendung. Das werden die nie tun«, meinte Allie und schob halbherzig mit der Gabel das Essen auf ihrem Teller hin und her.
»Besonders, wo sie anscheinend gar nicht zur Kenntnis genommen haben, dass Caroline nicht mehr da ist«, sagte Zoe.
Als Allie zu ihr aufsah, bemerkte sie aus dem Augenwinkel, dass Jules von einem Nachbartisch zu ihnen herübersah. Wie am Abend zuvor saß sie bei Katie und ihren Freundinnen. Sie wirkte gekränkt, und als sie Allies Blick auffing, schaute sie rasch weg.
Allie fragte sich, ob Carter Jules erzählt hatte, was los war. Warum er bei den Mahlzeiten nicht mehr neben ihr saß. Bei all dem, was in den letzten Tagen passiert war, konnten sie sich kaum gesehen haben.
»Tja, heute Abend findet ja nun kein Night-School-Training statt …« Carter sah über den Tisch hinweg zu Sylvain. Wie es aussah, bekam er gar nicht mit, was für ein Gesicht seine
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