Depesche aus dem Jenseits
hektischen Menge draußen fällt ihm eine junge Frau auf, die nicht läuft wie die anderen. Sie geht in Gemütsruhe, wenn auch mit festem Schritt, ihren Weg geradeaus, als schwebte sie über allem. Vor dem Lokal bleibt sie an der roten Ampel der kleinen Querstraße stehen und wartet bis die Ampel auf grün schaltet. Das ist sehr ungewöhnlich, ja fast lächerlich hier in Paris, wo kein Fußgänger sich darum schert, ob er nun verkehrsordnungsgemäß über die Straße geht oder nicht! Patrick betrachtet die junge Frau und ist fasziniert von ihrer ganzen Erscheinung. Sie erinnert ihn an eine kostbare Porzellanlampe aus Großmutters Zeiten. Rabenschwarzes Haar umrahmt ihr weißes, makelloses Gesicht. Sie trägt einen schwarzen Pelzmantel, schwarze Lackstiefel und schwarze Handschuhe.
Ohne recht zu überlegen, was er tut und was er eigentlich will, springt Patrick auf, schnappt seine Cola-Dose und stürzt aus dem Lokal. Er muß ihr nachgehen, er kann gar nicht anders. Diese unheimliche Schönheit zieht ihn an wie ein Magnet. Im Nu hat er sie eingeholt — nun aber traut er sich nicht, sie anzusprechen! Er wüßte auch nicht, was er ihr sagen sollte.
Völlig überraschend hält die Frau abrupt auf der Stelle, dreht sich halb nach rechts wie eine Aufziehpuppe und lenkt ihre Schritte zu einem feudalen Hotel im Stil der Jahrhundertwende. Patrick schaut ihr mit offenem Mund nach. Was soll er jetzt machen? Das Herz klopft ihm bis zum Hals.
Einen Moment zögert er, dann rennt er los und betritt die pompöse Vorhalle des Hotels gerade noch rechtzeitig, bevor die schöne Unbekannte in einem Nebensalon verschwindet. Die beiden Türflügel sind weit geöffnet und niemand fragt Patrick, wohin er will, als er durch die Empfangshalle schleicht bis zur Schwelle des Salons. Dort wartet er kurz, bis sich seine Augen an das Halbdunkel gewöhnt haben. Die Wände sind mit prunkvollen Stukkaturen verziert, darunter prangen überdimensionale, schon halb blinde Spiegel. Über den ganzen Raum sind Tische verteilt, aber es ist nicht das Mobiliar, das üblicherweise in solch exklusiven Häusern den verwöhnten Gästen aus aller Welt geboten wird. Es sind einfache Schulbänke und sie sind kreisförmig in der Mitte des Salons aufgestellt, alle durch schwarze spanische Wände voneinander abgetrennt. Auf jedem Pult steht ein Kerzenleuchter, und nur vage erkennt man im schwach flackernden Licht Gestalten, die tief in sich versunken scheinen. Wie sonderbar sie alle sind! Wo ist Patrick nur hingeraten?
Auf Zehenspitzen geht er hinein und stolpert fast über eine Gruppe von Menschen, die sich genauso seltsam benehmen: Sie knien auch kreisförmig auf einem Orientteppich und murmeln unentwegt vor sich hin, als beteten sie. Zu Tode erschrocken weicht Patrick zurück, blickt vorsichtig in die Runde und versucht, die Gesichter dieser Schattenfiguren zu erkennen. Endlich entdeckt er die junge Frau — sie sitzt an einem Pult — in tiefer Meditation begriffen.
»Madame!«
Patrick hat nicht laut gerufen, aber seine Stimme hallt im ganzen Raum wider. Doch niemand bemerkt ihn. Was sie auch hier veranstalten mögen, er wird mit ihr sprechen! Also schlüpft er zwischen die spanischen Wände und stellt sich direkt vor der schönen Unheimlichen auf — seine Cola-Dose hat er immer noch in der Hand! Daß er in seinen ausgewaschenen Jeans und ausgelatschten Turnschuhen in diesem mystischen Rahmen etwas deplaziert wirken könnte, kommt ihm gar nicht in den Sinn. Anscheinend stört es auch niemanden. Er nimmt all seinen Mut zusammen, holt tief Luft und gerade wie er endlich sprechen will — in dem Augenblick hebt die Frau den Kopf und schaut Patrick in die Augen:
»Setzen Sie sich!«
Patrick hat überhaupt keine Gelegenheit, etwas zu sagen, denn schon setzt die Frau zu einem seltsamen Monolog an und starrt dabei ins Leere:
»Ich sehe einen Brief, ja, Sie werden einen Brief erhalten. Da ist noch ein zerbrochenes Glas. Sie laufen durch die dunklen Straßen, sie irren umher...«
Jetzt schaut sie Patrick durchdringend an, und er spürt ihre Angst:
»Ich sehe auch eine Handkurbel, nimm dich in acht vor einem Mann mit einer Kurbel in der Hand!«
Daraufhin beugt sie sich nach vorn über das Pult und flüstert mit ernster, besorgter Stimme:
»Morgen... all das wird morgen geschehen!«
Patrick ist viel weniger von den Worten beeindruckt, als von der betörenden Schönheit der Frau, die so eindringlich auf ihn einredet. Er faßt sich ein Herz:
»Kann ich Sie
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