Depression! Wie helfen? - das Buch für Angehörige
die Reizüberflutung durch die Medien und die überladene Freizeitgestaltung (auch schon der Kinder!) ist nicht nur ein Partythema, sondern ein ernstes Problem, das wir nicht aus den Augen verlieren dürfen.
In den Jahrtausenden der Menschheitsgeschichte bis zur Industrialisierung gab es keine örtliche Trennung zwischen Leben und Arbeit. Die Gänsemagd wohnte auf dem Hof, der Schneidergeselle im Haus seines Meisters; die Arbeitszeit war durch die Dauer des Tageslichts geregelt. Die industrielle Revolution entfernte die Tätigkeit von zu Hause und verlegte sie in Manufaktur und Fabrik, die Freizeit wurde durch Gas und elektrisches Licht eingeschränkt – die »gute alte Zeit« war in dieser Hinsicht nicht so gut. Die zwischenmenschliche Kommunikation in den Betrieben beschränkte sich auf Befehle. Heute sind hingegen die Strukturen so komplex, dass jeder mit jedem vernetzt und 24 Stunden erreichbar sein muss, besonders in großen Firmen mit Niederlassungen von Tokio bis Los Angeles. Freizeit ohne Handy ist undenkbar geworden. Unser Leben ist in stetem Wandel begriffen: ein Gemeinplatz.
Nur eine Tätigkeit ist über die Jahrtausende einigermaßen gleich geblieben: die der Mutter und Hausfrau. Auch hier gibt es Burnout und Depression, vor allem durch die Doppelbelastung berufstätiger Mütter. Allerdings liegt die Schmerzgrenze im Allgemeinen höher als im eher unpersönlichen Berufsleben. Für beide Geschlechter ist eine gesunde »Work-Life-Balance« ein unverzichtbarer Schutz gegen Burnout und Depression.
Nebenbei bemerkt: Die unscharfen Grenzen zwischen den beiden Begriffen Burnout und Depression führen zu einer Verharmlosung der Depression. Burnout wird vielfach mit »Heroismus« in Verbindung gebracht. »In der Berichterstattung stünden die Burnout-Patienten oft als die Starken und die Depressiven als die Schwachen da«, so der Freiburger Psychiater Nico Niedermeier (a.a.O.) Dazu wäre anzufügen, dass Burnout meist eher mit einem Mangel an Selbsterkenntnis als mit Heroismus zu tun hat. Und Hegerl bemerkt ferner, dass der Begriff Burnout völlig unterschiedslos sowohl für lebensbedrohende Depressionen als auch für einfache Erschöpfungszustände verwendet werde. Darum sei »der beste Weg zu einem optimalen Umgang mit der Erkrankung Depression (…), eine Depression auch Depression zu nennen« (a.a.O.).
Für die Frage, warum Burnout ein vergleichsweise neues und stark wachsendes Phänomen ist, hat Pawelzik (a.a.O.) folgende Erklärung: »Da wir im Vergleich zu früheren Generationen viel anspruchsvoller sind, höher hinauswollen und unsere Ziele selbstbezogener verfolgen, nimmt es nicht wunder, dass wir heute nicht nur Burnout-gefährdeter, sondern auch Burnout-begeisterter sind. … Unter den Bedingungen unseres … Sozialstaates fühlen wir uns mehrheitlich derart sicher, dass wir nicht mehr zu wissen brauchen, dass das Wohlergehen immer schon einer Vielzahl glücklicher – und das heißt instabiler – Umstände geschuldet war.« Er weist auch auf die »fortschreitende Verschiebung der Grenze zwischen Gesundheit und Krankheit« hin. »Was früher einmal als unausweichliches oder altersbedingtes Leiden galt, ist heute eine Krankheit, die unabhängig vom Alter oder der Prognose behandelt werden muss.«
Depressivität und latente Depression
Die Psychiatrie unterscheidet zwischen leichter, mittlerer und schwerer Depression. Dabei handelt es sich um manifeste, mittels Diagnose identifizierte Krankheiten, bei denen stabilisierende und heilende Maßnahmen zu treffen sind. Unser Buch beschäftigt sich in erster Linie mit diesen Krankheiten.
Wir wollen aber einen Blick über diesen diagnostischen Zaun werfen. Einerseits geht der akuten bzw. chronischen Phase eine latente voraus, in der der übersensible Mensch nahe am Abgrund zur manifesten Depression entlanggeht. Andererseits leben viele Menschen ihr Leben lang in einem Schattenreich, in dem ihnen jedes Glas halb leer vorkommt, in dem sie alles schwarzsehen und damit sich und ihrer Umgebung das Leben erschweren. Da weder ein Burnout noch sonst eine akute Krise zu Maßnahmen zwingt, leben die betroffenen Menschen oft jahrzehntelang mit ihrer seelischen Behinderung – als solche möchte ich (Fritz Kamer) die Depressivität bezeichnen.
Depressivität
In dieser Charakterlage meint man, kein Anrecht auf Glück und Zerstreuung zu haben. Man hat Angst vor dem eigenen Ungenügen irgendwelchen Aufgaben gegenüber, man sieht sich als armen Sünder, der büßen
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