Depression! Wie helfen? - das Buch für Angehörige
Kindern erwartet wird. Genügen die Eltern ihrer Aufgabe als – salopp ausgedrückt – »Wärmespender« nicht, sind sie selber mit dieser vornehmsten und wichtigsten elterlichen Obliegenheit überfordert, übernehmen oft die Kinder die Aufgabe, »den Karren zu schleppen« – eine Riesenaufgabe, der sie nur genügen können, wenn sie ihr Kindsein hintanstellen und sich ständig selber überfordern. Das Erfüllen von Erwartungen wird zum Lebensprinzip, die Überforderung wird zu einem Lebensmuster.
Und dieses wird mit der Zeit, bis ins Erwachsensein hinein, so rigide, dass der freie Wille ganz unterdrückt wird: Es gibt nur noch ein Reagieren, kein Agieren mehr, oder, mit den Worten Giger-Bütlers (S. 94), kein Wollen mehr, nur noch ein Müssen. Sie fragen nicht mehr »Was möchte ich?«, sondern nur noch: »Was sollte ich?«. Die (oft eingebildeten) Erwartungen anderer bestimmen ihr Handeln und ihr Leben. Sie sind auch als Erwachsene pflegeleicht, hilfsbereit, lassen sich ausnützen, wollen nicht auffallen. Sie verlernen es, eigene Wünsche zu haben, was sich später bei der Berufswahl auswirken kann und der Grund für die Entscheidungsschwäche in der Depression ist.
Sie sind es von Kind auf gewohnt, auf sich allein gestellt zu sein, niemand hat ihnen geholfen. Das hindert sie damals und heute daran, Hilfe anzunehmen. Dies kann Partner und andere Angehörige ganz schön irritieren und schmerzen.
Nicht alle so geforderten Kinder werden depressiv. Es kommt eine – oft erblich bedingte – Komponente hinzu: Ein Kind ist robuster, ein anderes sensibler; das erste kann aufwachsen, ohne großen Schaden zu nehmen, das zweite wird sein Leben lang eine erhöhte depressive Prädisposition, eine latente Depression mit sich herumtragen, die sich oft und manchmal immer wieder in eine manifeste verwandelt. Das robuste Kind wird vom Außenstehenden als störrisch und egoistisch beurteilt, das sensible, sich überfordernde erscheint angepasst, pflegeleicht, man nimmt es kaum wahr.
Weil diese Angepasstheit sich auch im Erwachsenenalter fortsetzt, bemerkt man latente Depressionen oft nicht.
Die Sehnsucht nach Anerkennung und Liebe ist aber auch bei diesen Kindern vorhanden und bleibt ein Leben lang erhalten. Sie sind ständig auf der Suche und werden getrieben. Dabei können sie auch als Erwachsene Nähe und Geliebtwerden nicht annehmen.
Oft führt ein trauriges Ereignis, das ein Verlust-Erlebnis erzeugt (Weggang des Partners, Prüfungs-Flop usw.), in eine Depression, siehe auch »Fälle aus dem Leben«, S. 171 ff. Während der gesunde Mensch früher oder später darüber hinwegkommt, ist das für den Depressivitätsbetroffenen viel schwieriger, denn »nicht das Ereignis überfordert ihn, sondern er sich selbst.« Er nimmt das Ereignis zum Anlass, über seine Unfähigkeit zu jammern.
Diese »Erfahrung der Ohnmacht, des Versagens, des Ausgeliefertseins« (S. 36) führt oft dazu, dass der Betroffene seine Depression verheimlicht, um sich keine Blößen zu geben.
Giger-Bütler meint ferner: Menschen in der Depression »verstehen (häufig) eigentlich gar nicht, warum es ihnen so schlecht geht« (S. 36). Diese Beobachtung wird vom Autor nicht weiter erläutert. Die Beschäftigung mit ihr kann aber zu unserem Verständnis des depressiven Mitmenschen beitragen.
Auch der Körper wird laufend überfordert. Wenn ein gesunder Mensch müde ist, ruht er sich aus, gönnt er sich eine Pause. Der depressive Mensch kennt dieses Mittel nicht, er muss beständig auf Draht sein, er verfolgt sein Ziel immer mit dem gleichen Einsatz, obwohl er eigentlich müde ist – und scheitert.
Wenn der Depressionsbetroffene sein Leben nicht radikal und grundlegend ändert, sind Rückfälle von der latenten in die akute Depression vorprogrammiert. Und dann versucht er wieder verzweifelt, aus diesem Zustand herauszukommen. Aber jeder neue Anlauf (!) der den Einsatz des Körpers verlangt, wird mühsamer. Geistig-seelische Initiativen zu Veränderungen des Zustandes fallen dem Depressiven schwerer, wenn der Körper durch stetige geistige Überforderung müde geworden ist. Auch wir Gesunden verlieren an geistiger Unternehmungslust, wenn wir körperlich müde sind.
Dass der Körper des Depressionskranken müde wird, hat nach Giger-Bütler (S. 202 ff.) damit zu tun, dass für diesen der Körper nie ein Thema war. Der Körper hat zu parieren und mitzumachen. Seine Warnzeichen werden ignoriert. Davon, dass eine Depression eine Notbremsreaktion des
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