Depression! Wie helfen? - das Buch für Angehörige
zum Mittagessen unsichtbar. Früher war der Frühstückstisch um halb neun abgeräumt und die Mutter mit dem Einkaufskorb unterwegs. Heute steht das Geschirr herum, bis jemand – nach Blitz-Großeinkäufen im Supermarkt – abends nach Hause kommt und sich der Sache annimmt.
Die Erkrankung unseres Partners, Vaters oder Kindes greift ein in unser Leben wie eine Grippe, Scharlach oder ein Knochenbruch, nur sehr viel stärker. Die Stimmungsschwankungen des Patienten in der Depression sind intensiver, schwerer nachvollziehbar, weniger vorhersehbar, Sie drücken auf unser Gemüt, auch weil keine äußerlichen Krankheitssymptome wie Fieber oder Gipsverbände vorliegen.
Innen- und Außenminister
Allen modernen Emanzipationsbestrebungen zum Trotz folgt in den meisten Fällen die Rollenverteilung in der Paarbeziehung immer noch den historisch gewachsenen Mustern: Der Vater ist der Finanz- und Außenminister, die Mutter versieht das Innen- und Erziehungsministerium.
In der Depression ist der betreffende »Minister« oft nicht mehr in der Lage, seine Aufgaben wahrzunehmen. Er zieht sich zurück in die Tiefen seiner Krankheit, die wir nicht begreifen. Er merkt vielleicht gar nicht, dass er sich von seinen Aufgaben abgemeldet hat und dass diese trotzdem erledigt werden müssen. Oder wenn er die Folgen seiner Untätigkeit noch wahrnimmt, versinkt er umso mehr in Selbstvorwürfen und »kann« trotzdem nicht.
Dies führt zu einer zusätzlichen Belastung von uns gesunden Angehörigen. Keine Regierung der Welt – Diktaturen vielleicht ausgenommen –, konzentriert das Außen- und das Innenministerium in einer Person! Im Übrigen ist auch kein Beamtenheer vorhanden, das die praktischen Aufgaben wahrnimmt und über das nötige Fachwissen verfügt. Damit ist gesagt, dass die Mutter Entscheidungen treffen muss, die bisher im besten Falle gemeinsam getroffen wurden und für die ihr die nötigen Kenntnisse und Erfahrungen fehlen. Umgekehrt muss der (gesunde) Vater praktische Haushaltsarbeiten übernehmen, die ihm bisher fremd waren oder die ihm zumindest schwerfallen – mangels Übung oder Motivation …
Wir wissen schon: Keine Depression gleicht der anderen. Der eine zieht sich zurück, schließt sich gar ein. Der andere braucht einen Hofstaat. Ständig hat er irgendwelche Wünsche. Und wenn er keine hat, sorgen wir uns doch um ihn, schauen nach ihm, etwa ob er einen Tee mag. Er sollte wieder mal etwas essen, er sollte an die frische Luft. Dieses dauernde Umsorgen belastet uns Angehörige stark, nicht selten bis an unsere Grenzen. Unser eigenes Leben wird auf das Notwendigste beschränkt, wir laufen Gefahr, unsere übrigen Aufgaben zu vernachlässigen. Wenn wir nur noch »funktionieren«, sollten wir auf die Alarmzeichen achten und Gegenmaßnahmen treffen. Davon später.
Der Kranke legt also seinen Teil der familiären Pflichten vertrauensvoll in die Hände von uns Gesunden und bürdet uns gleichzeitig die Last seiner Verzweiflung auf. Auch sind für ihn Entscheidungen zu treffen – die mitzutragen er nicht in der Lage ist. Wir müssen das Familienschiff weitersteuern, der Haushalt wartet nicht. Nebst unserem Patienten wollen auch die Kinder betreut und sollen erzogen werden, Haustiere und Pflanzen brauchen ebenfalls unsere Aufmerksamkeit. Putzen, Waschen und Aufräumen sind zwar auch Arbeitstherapie, zehren aber im Übermaß genauso an unserer Gesundheit. Anfangs setzten wir, wie in einem »normalen« Krankheitsfall, einfach einen Zacken zu. Aber Depressionen dauern in den wenigsten Fällen nur ein paar Wochen.
Anfangs verscheuchen wir den Gedanken, ob der Kranke wirklich nicht »kann« oder ob er sich in seinem dunklen Zimmer gut eingerichtet hat. Wir schämen uns, dass wir die Mehrbelastung nicht »mit Links« wegstecken können, dass die Neuverteilung der Aufgaben auf die anderen Familienglieder nur schlecht funktioniert. Diese Scham hält uns davon ab, externe Hilfe zu holen. Ein Klinikaufenthalt könnte uns entlasten, beschert uns aber Gewissensbisse. Wir können doch den Armen nicht einfach abschieben.
Zu alledem kommt noch der Faktor Zeit: Am Anfang akzeptieren wir die Depression als Krankheit, die hoffentlich bald vorübergeht. Je länger sie allerdings dauert – und wie lange, ist ungewiss – desto größer wird die Last. Wir gewöhnen uns zwar unmerklich daran, dass das Familienleben aus den Fugen geraten ist, trotzdem sehnen wir uns nach dem früheren unbeschwerten Leben.
Auch dieses Kapitel können wir positiv
Weitere Kostenlose Bücher