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Der 13. Brief

Titel: Der 13. Brief Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucie Klassen
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wie eine Ampel den Stand ihres Blutdrucks anzeigt.
    »Na schön«, gab Mario zu. »Vielleicht hat sie geglaubt, wir hätten eine Beziehung. Und wenn sie nicht aus dem Fenster gesprungen wäre, hätten wir von mir aus auch noch ein paarmal poppen können.«
    Er hatte also nicht mit ihr Schluss gemacht?
    »Mit der Kleinen konntest du richtig Spaß haben, weißt du?« Orkan trat dicht hinter mich. »War nicht so verklemmt wie die anderen Küken aus der Zehnten, die hat zu nix Nein gesagt.«
    Na, das waren ja Helden! Offensichtlich gehörten sie zu der Sorte Spätpubertierender, die denjenigen, der den meisten Sex hatte, zum Rudelführer ernannten. Oder den, der sich die kreativsten Bettgeschichten ausdachte, denn Orkan und Dominik hatten wohl kaum daneben gestanden und Protokoll geführt.
    »Du siehst mir allerdings auch nicht wie ein verklemmtes Küken aus.« Marios Gesicht hatte aufgehört zu leuchten.
    Er sah mir tief in die Augen und ich vermutete, dass die Mädchen daraufhin gewöhnlich ohnmächtig vor ihm zu Boden sanken.
    »Ich gebe dir gern ein bisschen Nachhilfe.«
    O bitte. Gelangweilt pustete ich ihm den letzten Rauch ins Gesicht. Dann drückte ich die Kippe auf dem Lehrerpult aus und stellte mir vor, wie die Jungs gleich versuchten, den Brandfleck wegzuwischen, damit ihre Raucherpausen nicht aufflogen.
    »Sorry, Schätzchen, aber ich glaube nicht, dass du mir noch was beibringen kannst.« Ich drehte mich um und ging.
    »Die hat ja ’ne ganz schön große Fresse!«, hörte ich Dominik noch sagen, der bisher nicht viel zur Unterhaltung beigetragen hatte.
    Ich beschloss, bei Gelegenheit ein ernstes Wort mit Lena über ihren Geschmack in Männerfragen zu reden.
    »Lila! Hast du noch nichts davon gehört, dass die Schüler in den Pausen die Unterrichtsräume verlassen müssen?«
    Ich fuhr herum.
    Morgenroth, der Steinzeitmensch, kam mit der Plastikattrappe einer menschlichen Wirbelsäule unterm Arm die Treppe heraufgeschnauft.
    »Ich habe nach Ihnen gesucht«, redete ich mich heraus und hoffte, dass ich nicht zu sehr nach Rauch roch. »Der Rektor hat gesagt, wir könnten mit den Lehrern über den Tod unseres Mitschülers sprechen.«
    »Haberland«, brummte Morgenroth nickend in seinen Bart. »Ich hab davon gehört.«
    »Eigentlich sollen wir uns ja an unseren Klassenlehrer wenden, aber – wie soll ich es sagen? – ich bin mit Herrn Dittmer noch nicht so richtig warm geworden.«
    Morgenroths buschiger Bart verzog sich ein wenig. Ich sah ihm an, dass er sich Gründe für mein kühles Verhältnis zu Dittmer zusammenreimte.
    »Deshalb wollte ich fragen, ob Sie vielleicht ein paar Minuten Zeit für mich hätten?«
    »Komm mit.«
    Glücklicherweise ging er nicht auf den Raum hinter mir zu, in dem die drei Jungen noch immer rauchten, sondern stampfte weiter die Treppe hinauf.
    »Ich konnte Jendrick nicht besonders gut leiden«, versuchte ich vorsichtig, den Lehrer zu ködern. »Und jetzt denke ich die ganze Zeit darüber nach, ob es etwas geändert hätte, wenn ich freundlicher zu ihm gewesen wäre. Ich dachte, Sie könnten mich vielleicht verstehen, weil Eva Ahrend ja nach Ihrem Unterricht aus dem Fenster gesprungen ist.«
    Morgenroth blieb mitten auf der Treppe stehen.
    »Denken Sie auch manchmal, Eva könnte noch am Leben sein, wenn Sie etwas anders gemacht hätten?«, fragte ich direkt. »Hätten Sie mehr auf sie geachtet, wenn Sie gewusst hätten, was passieren würde?«
    Morgenroths breite Schultern sanken leicht nach vorn.
    »Hätten Sie was merken müssen?«
    Der Lehrer stellte seufzend die Plastikwirbelsäule auf die Treppe. »Willst du die Wahrheit hören, Lila? Ich habe keine Ahnung, was genau an dem Abend passiert ist. Nach dreißig Jahren Schuldienst ist man so in der Tretmühle drin, dass man sich überhaupt keine Gedanken darüber macht: Unterricht beenden, Sachen einpacken, rausgehen – das alles passiert automatisch. Ich war mit meinen Gedanken schon lange zu Hause. Ich weiß nicht, ob Eva allein im Klassenraum blieb oder ob noch jemand dabei war. Ich weiß nicht, ob ich die Tür zugezogen habe oder nicht. Und ja, ich denke jeden Tag, dass ich irgendetwas hätte bemerken müssen. Ich hätte warten müssen, bis Eva den Raum verließ. Jetzt mache ich es immer so, aber jetzt ist es zu spät.«
    Er fuhr sich durch den Bart.
    Ich glaubte, seine kurzen Finger leicht zittern zu sehen. Gehörte er etwa zu den wenigen Lehrern, die dreißig Dienstjahre nicht in einen Zombie verwandelt hatten?
    »Sind Sie

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