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Der 13. Brief

Titel: Der 13. Brief Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucie Klassen
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Ich sehe, wie sie den Augenblick genießt, in dem sie die Musik mit einem Wink verstummen lässt und ans Mikrofon tritt, obwohl sie in unserem Wohnzimmer auch ohne Mikrofon jeder verstanden hätte. Sie streicht ihre blonde Mähne kokett nach hinten und setzt ihr strahlendstes Lächeln auf. Ich nenne es ihr Showlächeln, weil man es im normalen Leben nie zu Gesicht bekommt.
    »Meine Lieben, darf ich einen Augenblick um eure Aufmerksamkeit bitten?«, flötet sie und wie immer richten sich sofort alle Blicke auf sie. »Unsere liebe Liana möchte uns unbedingt vorführen, was die teuren Klavierstunden bis jetzt bewirkt haben!«
    Ich glaube, sie träumt bis heute wie ein Teenager davon, ein Filmstar zu sein. Oder zumindest Fernsehmoderatorin statt Oberstaatsanwaltsgattin.
    Ein Knacken in den Lautsprechern riss mich zurück in die Gegenwart. Am Mikrofon stand nun ein Mann, der hauptsächlich riesig war. Er schien leicht übergewichtig, doch bei grob geschätzt zwei Metern Körpergröße verteilten sich die überflüssigen Pfunde bequem. Sein Gesicht war quadratisch, die Haltung lässig. Volles, graues Haar schmiegte sich an seine Schläfen. Er musste über sechzig sein, hatte sich aber gut gehalten.
    »Mattek, der Polizeipräsident«, flüsterte mir Danner zu.
    Der Polizeipräsident bückte sich und zog das Mikro ein Stück weiter nach oben: »Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Gäste. Ich freue mich, dass auch dieses Jahr wieder so viele unserer Einladung gefolgt sind. Ganz besonders herzlich möchte ich die Oberbürgermeisterin begrüßen …«
    Blabla.
    Es folgte eine Aufzählung sämtlicher Mitglieder des Stadtrates, einiger Industrieller und aller anderen, die Mattek zum Polizeipräsidenten gemacht hatten. Dann kam eine Lobeshymne auf die erfolgreiche Polizeiarbeit im vergangenen Jahr, Daten und Statistiken darüber, wie viele Fälle aufgeklärt werden konnten, Dank an die einzelnen Abteilungen, an die Kollegen, die heute nicht dabei sein konnten, weil sie Dienst schoben, an die Putzfrauen der Polizeiklos, den Erfinder der Blaubeermuffins und den Wettergott für die gute Zusammenarbeit.
    Ich stützte meine Ellenbogen auf den Tisch und mein Kinn in die Hände und war froh, dass mein Stretchkleid langes Sitzen nicht zur Folter werden ließ.
    Danner schien meine gelangweilte Miene nicht entgangen zu sein, denn er lehnte sich zu mir herüber: »Die Schlampe sitzt links hinter ihm.«
    Erstaunt richtete ich mich auf.
    Die Frau, die hinter dem Polizeipräsidenten am Tisch saß, war zierlich. Ihre kurzen, dunklen Haare trug sie modisch ins hübsche, herzförmige Gesicht gefönt. Sie hielt sich gerade und nippte hin und wieder an ihrem Wasserglas, während sie mit ausdruckslosem Gesicht die Rede des Polizeipräsidenten verfolgte.
    »… möchte ich meinen langjährigen Stellvertreter Albrecht Sievershagen in die Ruhephase der Altersteilzeit verabschieden«, erklärte der Riese gerade.
    Ein dünner, bebrillter Mann, dem man seinen Beamtenstatus schon aus zwanzig Metern Entfernung ansah, erhob sich neben der Schlampe.
    »Die dadurch frei gewordene Stelle meines Vertreters wird – wie viele von Ihnen richtig vermutet haben – mit unserer allseits geschätzten Kollegin Klara Peters neu besetzt.«
    Das Stichwort für die Schlampe.
    Ihre lange Abendrobe schimmerte silbern, als sie nach vorn trat. Neben dem Riesen wirkte sie wie Barbie neben Balu, dem Bären.
    Das Publikum begrüßte sie mit artigem Applaus, nur Danner und Staschek klatschten nicht.
    Der Polizeipräsident reichte das Mikro an die Schlampe weiter.
    Obwohl ich aus der Entfernung ihr Gesicht kaum erkennen konnte, registrierte ich doch den Augenaufschlag, mit dem sie zu dem Riesen aufsah. Und er konnte sich ein dümmliches Lächeln nicht verkneifen.
    Sie verstand es anscheinend im Schlaf, jeden Beschützerinstinkt wiederzubeleben, den ein Mann vor zwanzig Jahren nach irgendeiner gescheiterten Ehe eigentlich hatte ablegen wollen.
    Ihre melodische Stimme klang selbstbewusst. Ein leicht scharfer Unterton sorgte dafür, dass ihr alle zuhörten. Die Schlampe beherrschte ihre Rolle. Jede Geste, jeder Blick saß. Perfekt.
    Ich sah zu Staschek und Danner hinüber und stellte zufrieden fest, dass die beiden gegen die Ausstrahlung der Schlampe immun zu sein schienen. Beide hatten sich zurückgelehnt, die Arme verschränkt und die Brauen skeptisch hochgezogen.
    Na ja, bei allem, was sie mit Danner abgezogen hatte, war es kein Wunder, dass sie sich nicht bezirzen ließen.
    Die

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