Der 13. Brief
sodass große, graue Flecken ein heruntergekommenes Bild vermittelten.
Die Namen auf den Klingelschildern waren allesamt türkisch, die Hälfte der Familien hieß Özer.
Orkans Mutter trug ein eng um den Kopf geschlungenes, türkisfarbenes Kopftuch. Trotz einiger tiefer Falten, die sich bereits in ihr Gesicht gegraben hatten, wusste ich auf den ersten Blick, wem Orkan sein ansprechendes Äußeres verdankte. Zwei kleine Jungen zerrten an ihrem bodenlangen Rock.
»Orkan? Ich glaube nicht, dass er da ist. Warten bitte.« Ihr Akzent war ausgeprägter als der ihres Sohnes.
»Gül?«, rief sie in die Wohnung.
Prompt erschien eine ebenfalls kopftuchtragende Vierzehnjährige. Auf die türkische Frage ihrer Mutter antwortete sie mit einem Kopfschütteln. Sie nahm die beiden Kinder an die Hand und verschwand mit ihnen in der Wohnung.
Ich runzelte die Stirn. Was ich hier sah, machte Orkan für mich nicht unverdächtiger. Weil Orkan beinahe akzentfrei sprach, seine besten Kumpels Deutsche waren und er mit deutschen Mädchen wie Karo schlief, war ich davon ausgegangen, dass er westlich erzogen worden war.
Wenn er aber aus einer Welt kam, in der Frauen ihre Haare verbergen, ihrem Mann gehorchen und als Jungfrau in die Ehe gehen mussten, hielt Orkan Özer vielleicht sogar ein überdurchschnittlich braves Mädchen wie Eva Ahrend für eine ungläubige Schlampe, die verdient hatte, was ihr passiert war.
Das allein aus dem Kopftuch seiner Mutter zu schließen, war natürlich eine boshafte Vorverurteilung. Vielleicht war das Kopftuch nicht für jede Muslima ein politisches Statement? Vielleicht trug sie es nur, weil es alle machten, weil es gerade ›in‹ war, so wie die deutschen Mädels im Augenblick Miniröcke über ihre Jeans zogen?
Vielleicht hatte die Tatsache, dass Orkan ein chauvinistischer Aufreißer war, nichts mit seiner Erziehung zu tun. Denn der schöne Mario verhielt sich nicht anders, obwohl seine Mutter sich höchstwahrscheinlich nicht verschleierte.
»Orkan ist nicht zu Hause«, erklärte Frau Özer Danner.
»Wann kommt er wieder?«, fragte Staschek.
Kopfschütteln.
»Wissen Sie, wo er ist?«
Wieder Kopfschütteln.
Staschek nickte. »Dann besuchen wir seinen Freund Dominik.«
Das Einfamilienhaus, in dem Dominik Seibold lebte, ähnelte dem der Ahrends. Nur stand anstelle eines griechischen Gottes ein Fischreiher aus Plastik am Gartenteich.
Dominiks Vater war Zahnarzt, die Mutter hauptberuflich Zahnarztfrau.
Die hauptberufliche Zahnarztfrau öffnete uns die Tür. Sie war groß und schlank, ihr Make-up dick, die Wimpern unecht, der anthrazitfarbene Hosenanzug elegant. Sie trug den gleichen lockigen, braunen Pferdeschwanz wie ihr Sohn und hatte zu viel Parfüm aufgelegt.
»Danner, private Ermittlungen«, stellte Danner sich vor. »Das sind meine Mitarbeiter Lila Ziegler und Lennart Staschek. Wir würden gern Ihrem Sohn ein paar Fragen stellen, ist er zu Hause?«
Frau Seibold verzog ihren kunstvoll bemalten Mund. Der Lippenstift war bräunlich, die Konturen hatte sie über die Lippen hinaus gemalt, um sie voller wirken zu lassen. »Worum geht es?«
»Um den Selbstmord am Ottilie-Baader-Gymnasium.«
Sie nickte: »Davon habe ich gehört. Dominik hat allerdings Besuch.«
»Ich denke, ein paar Minuten sollte er uns erübrigen können«, bemerkte Staschek scharf.
Die Frau betrachtete ihn genauer.
Ich registrierte, wie sich ihre Haltung veränderte: Sie richtete sich auf, wodurch sich ihr Busen etwas hob, und verlagerte das Gewicht aufs rechte Bein.
»Wie war doch gleich Ihr Name?«
Danner trat einen Schritt zurück.
»Staschek. Sie würden uns sehr helfen, wenn Sie Ihrem Sohn klarmachen könnten, wie wichtig seine Mitarbeit in dieser Sache ist.« Staschek strich sich die Haare aus der Stirn.
Ich tauschte einen kurzen Blick mit Danner und biss mir auf die Lippen.
»Kommen Sie rein, Herr Staschek!«
Mit wiegenden Hüften führte uns die Zahnarztfrau die Treppe hinauf in den ersten Stock.
»Du hast Besuch, Domi!«, rief sie.
Sie hielt die Tür auf, wobei sie im Durchgang stehen blieb, sodass Staschek sich dicht an ihr vorbeischieben musste.
Wir standen in einem hellen Flur, eine Tür zu einem Badezimmer mit Eckbadewanne stand offen. Dominik Seibold hatte eine eigene Wohnung und, der Sauberkeit des Parkettfußbodens nach zu urteilen, wahrscheinlich auch eine eigene Putzfrau.
Ein scharfer Rauchgeruch stieg mir in die Nase.
In dem geräumigen Wohnzimmer, in dem der Flur endete, trafen wir zu unserem
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