Der 18 Schluessel
typische leuchtende Farbkraft zurückerhalten hatten. Denn, so erklärte die Reiseleiterin weiter, bei der Freskomalerei würde die Farbe auf den noch nassen Untergrund aufgetragen werden, sodass sie mit dem Putz eine Verbindung einging und so besonders haltbar wurde. Eliana legte den Kopf in den Nacken und betrachtete die gewöhnungsbedürftigen muskulösen, aber damit auch untersetzt wirkenden Körper, welche typisch für Michelangelo waren. Bei der Erschaffung des Adam, einer Szene, die trotz der schweren Körper fast filigran und leicht wirkte, was sie vor allem den sich beinahe sanft berührenden Fingern Gottes und Adams und der fast weiblichen Stellung ihrer Hände verdankte, blieb Eliana länger stehen. Unwillkürlich musste sie wieder an das Buch Raziel denken und an die Vertreibung Adams aus dem Paradies. Beim Anblick des berühmten Freskos überkam Eliana eine bedrückende Erkenntnis. Gott hatte die Menschen tatsächlich ins Paradies zurückführen wollen – Krankheiten, Schmerzen, das Leid von ihnen nehmen. Aber durch Danyals Kurzschlussreaktion war das Buch unwiderruflich verloren gegangen. Erst jetzt begriff sie den Verlust des Buches Raziel in seiner gesamten Tragweite.
Sie lauschte weiter der Reiseleiterin, die vom Sündenfall im Paradies sprach und der Bürde der Mutterschaft, der Schmerzen und des Todes, die Gott Adam und Eva als Strafe auferlegt hatte, da sie die Frucht vom Baum der Erkenntnis gegessen und sich damit Wissen angeeignet hatten, das nicht für sie bestimmt gewesen war. Die Stimme der Reiseleiterin hatte etwas Monotones, während sie auf die Gruppe einsprach – wahrscheinlich hatte sie ihren Text schon unzählige Male heruntergeleiert. „Die Juden glauben allerdings, dass Gott den Menschen einst verziehen und ein geheimes Buch in Auftrag gegeben hat, um Adam die Rückkehr ins Paradies zu ermöglichen ...“
Eliana horchte auf. Das konnte diese Frau doch eigentlich gar nicht wissen. Danyal hatte das Buch zerstört – und kein Mensch hatte vom Buch Raziel gewusst! Eliana nahm ihren Mut zusammen und unterbrach den Monolog der Reiseleiterin. „Wissen Sie etwas über ein Buch, das von Engeln gestohlen wurde?“
Aus dem Konzept gebracht runzelte die Reiseleiterin die Stirn – wahrscheinlich hatte sie nicht mit einer Frage gerechnet, und das machte nun auch den Rest der Gruppe neugierig und die Reiseführerin sichtlich nervös. Eliana konnte sehen, wie die überforderte Frau überlegte, dann schien sich ihr Gesicht endlich aufzuhellen. „Sie meinen das Buch der Geheimnisse – ein mittelalterliches Grimoire?“
Eliana nickte, obwohl sie keine Ahnung hatte, ob sie von dem gleichen Buch sprachen. Trotzdem lauschte sie angespannt den Ausführungen der Reiseleiterin. „Ja, es gibt ein kabbalistisches Buch aus dem Mittelalter von einem unbekannten Autor ... manche behaupten, dass es versteckte Auszüge jenes ursprünglichen Buches enthält, das Adam einst von den Cherubim gestohlen wurde. Vor allem, weil es teilweise in einer unbekannten Sprache verfasst wurde – der Sprache der Engel, wie von mancher Seite behauptet wird.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Im Mittelalter wurden allerdings viele solcher Zauberbücher geschrieben, die sich angeblich auf viel ältere Texte stützten – die meisten waren aber Fälschungen. Tatsächlich ist dieses Grimoire eine Art frühes Werk mit Angaben über die Planeten, Schöpfung und das Leben an sich, na ja, es enthält eben jene Dinge, welche für Alchemisten zu dieser Zeit wichtig waren ... frühe wissenschaftliche Ansätze. Allerdings ist es aufgrund der nicht zu entziffernden Schrift äußerst fragwürdig.“ Die Reiseführerin lächelte, zufrieden, dass sie ihre Souveränität hatte unter Beweis stellen können. Gewichtig wandte sie sich an ihr übriges Publikum. „Natürlich handelt es sich bei der gesamten Geschichte um Adams Rückkehr ins Paradies um einen Mythos und frühen Wunschtraum der Menschen, wie bei so vielen Dingen in der Geschichte. Man kann sogar davon ausgehen, dass niemals ein geheimes Buch existiert hat.“
„Natürlich“, flüsterte Eliana mehr zu sich selbst. Die Reiseleiterin war glücklich, ihren Kopf aus der Schlinge der Unwissenheit gezogen zu haben und führte die Gruppe schnell zum nächsten Fresko. Auf einmal fühlte sich Eliana nicht mehr wohl in der Sixtinischen Kapelle. Sie wartete eine Weile und nutzte dann einen unbeobachteten Augenblick, um sich davon zu schleichen.
Als sie hinaus in den Nieselregen
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