Der 21. Juli
kräftiger Mann hatte eine Schippe in der Hand, mit der er Kohle vom Tender in die Feuerbüchse warf, die Klappe war offen. Rot brannte das Feuer unter dem Dampfkessel. Der Lokführer war groß und stark gebaut. Weiße Augäpfel mit schwarzen Pupillen in einem verrußten Gesicht richteten sich auf Werdin, auf dem Kopf trug der Lokführer eine schwarze Kappe. Werdin drückte ihm die Walther auf den schwarzen Kittel. Es beeindruckte den Mann nicht.
»So, so«, sagte er. »Sie wollen wohl umsonst mitfahren.« Er grinste über sein breites Gesicht. »Oder sollten Sie etwa keine Lust haben, sich mit den blauen Jungs da hinten« - er zeigte mit dem Daumen zum Bahnsteig - »zu unterhalten. Welch Zufall, die suchen jemanden. Genauer gesagt, die machen die Laufburschen für die wunderbare SS des wunderbaren Reichsführers.«
»Seien Sie ruhig«, sagte Werdin.
Das scherte den Lokführer nicht. »Ein echter Deutscher auf der Flucht vor den eigenen Leuten. Das erlebt man aber selten.«
Werdin schaute den Mann böse an: »Halt’s Maul!«
Der Lokführer lachte fröhlich. »Also, ein Ladendieb biste nicht. Und um Alimente kümmert sich die SS auch nicht gern. Wo willst du denn hin?«
»Nach Deutschland«, sagte Werdin und vergaß, dass er dem Mann befohlen hatte, ruhig zu sein.
»Ach, ein Verrückter«, sagte der Lokführer. »Nur ein Irrer geht nach Deutschland, wenn die SS ihn haben will. Da kannst du ja gleich in die Prinz-Albrecht-Straße marschieren und sagen: Hier bin ich, melde mich zur Folter.«
Werdin widersprach nicht. Seine Pistole war fehl am Platz.
»Pass auf, mein Junge, ich sag dir jetzt mal was. Steck die Knarre weg, zieh dir die Klamotten von meinem Kollegen hier an, pack die Schaufel, und sieh zu, dass du Kohle untern Kessel kriegst. Und das Ganze bitte ein bisschen flott. Wir wollen nämlich heute noch nach Venlo. Und in Venlo, da sehen wir mal weiter.« Der Lokführer zeigte Werdin einen Verschlag, in dem er Koffer und Kleidung verschwinden lassen konnte. Binnen weniger Minuten verwandelte sich Werdin in einen Heizer. Der wirkliche Heizer stellte sich in Unterwäsche ans Fenster und beobachtete fröhlich das Geschehen. Der Lokführer öffnete die Klappe der Feuerbüchse unter dem Kessel und zeigte auf den Tender. Werdin begann Kohle vom Tender in die Feuerbüchse zu werfen. Der Lokführer steckte sich eine kleine Pfeife in den Mund, zündete ein Streichholz an, hielt die Flamme über den Pfeifenkopf und zog, bis kleine Rauchwolken aufstiegen. Er grinste.
»Sie müssen schauen, wie Sie nach Deutschland hineinkommen. Sie sollten es mit dem Dienstausweis probieren. Den Sturmbannführer Brockmann gibt es ja wirklich. Ich halte es für ausgeschlossen, dass Himmler oder Schellenberg die Dienstreisen jedes ihrer Leute überwachen lassen. Ich gebe aber zu, ein Restrisiko bleibt. Früher haben wir manchmal einen über die grüne Grenze schleusen können, aber letztes Jahr hat die SS die Schleuser hochgenommen. Einer läuft noch frei herum, ich fürchte, es ist ein Spitzel, der auf Leute wartet wie Sie.«
Crowford war wenigstens ehrlich. Die ganze Geschichte war ein Abenteuer. Vernünftigerweise sollten sich die Amis schon einmal darauf einstellen, dass sie demnächst einem deutschsowjetischen Bündnis gegenüberstehen. Wenn ihnen nicht mehr einfällt, als einen einzelnen Mann ohne jede Unterstützung auf Himmler anzusetzen. So was Himmelfahrtskommando zu nennen wäre eine Verharmlosung gewesen.
Seit er sein Bild in der Hand eines holländischen Polizisten gesehen hatte, wusste Werdin, er würde nicht als SS-Offizier über die deutsche Grenze kommen. Sein Konterfei würde auch in der Kontrollstelle hängen. Seinen Decknamen kannten sie nicht, aber das Bild würde ihn verraten. Die Z5, der Computer, durfte ihre Künste an anderen Fällen beweisen.
Nun saß er im Führerstand einer Lokomotive, die aus dem Bahnhof von Eindhoven herausstampfte und in einer knappen Dreiviertelstunde die Endstation Venlo erreichen würde. Der Lokführer nuggelte an seiner Pfeife und grinste. Er gehörte zu einem Menschenschlag, der Werdin vertraut war, mehr als das: der ihm das Gefühl von Heimat gab, einer weit zurückliegenden Heimat. Werdin begriff, der Mann hasste die SS, er hasste die Deutschen, die sein Land unter der Fuchtel hielten, aber er hasste nicht alle Deutschen. Deutsche, die von der SS verfolgt wurden, mochte er. Er riskierte seinen Hals für sie. Das gab es nur in der Arbeiterbewegung, in der niederländischen wie
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