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Der 21. Juli

Der 21. Juli

Titel: Der 21. Juli Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Ditfurth
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in der deutschen.
    »Ich habe in Venlo einen Freund«, brüllte der Mann gegen das Stampfen und Zischen der Lokomotive an. »Mal sehen, vielleicht kriegt er dich über die Grenze. Wenn ich ihm sage, wie gut du Kohlen schippen kannst.« Er lachte übers ganze Gesicht.
    »Ich hätte dich erschießen sollen«, brüllte Werdin zurück.
    Der Lokführer lachte noch lauter. »Klar, dann hättest du endlich mal eine Lokomotive steuern dürfen. Davon träumt jeder dumme Junge.« Er klopfte Werdin auf die Schulter und bedeutete ihm, er solle die Schaufel abstellen. Er schloss die Klappe der Feuerbüchse. Offenbar reichte der Dampfdruck für eine Weile. Werdin wischte sich mit dem Ärmel über die Stirn.
    »Was hast du in Deutschland vor?«, fragte der Lokführer.
    »Geheime Reichssache«, erwiderte Werdin.
    Der Lokführer lachte.
    »Und was hast du gegen die SS? Die Deutschen haben Holland doch vor der Besetzung durch Amis und Tommies geschützt. Sei dankbar«, frotzelte Werdin.
    Der Lokführer tippte sich mit dem Zeigefinger an die rußverschmierte Stirn. Er zog am Seil der Dampfsirene, die Lok pfiff laut. Er zog noch einmal.
    »Hast du mal was von Lenin gelesen?«, fragte der Lokführer.
    »Ja«, sagte Werdin. Er begriff, dass der Lokführer herauskriegen wollte, wessen Geistes Kind sein neuer Gehilfe war.
    »Hast du den Linken Radikalismus gelesen?«
    »Klar«, sagte Werdin. In seinem Buch Der >linke Radikalismusi, die Kinderkrankheit im Kommunismus< prügelt Lenin auf Strömungen in der Arbeiterbewegung ein, die er für linksradikal hält. Mit hitziger Wut richtet er sich besonders gegen holländische Anarchisten.
    »Na, dann weißt du jetzt ja, was ich für einer bin«, sagte der Lokführer. »Und ich weiß, was du für einer bist. Ein Schmuggler würde so einen Quatsch ja nicht lesen. Wenn wir Zeit hätten, könntest du mir mal erzählen, was die große Sowjetunion denn für die Weltrevolution tut.«
    Werdin verzichtete darauf, den Lokführer zu berichtigen. Immerhin, er war früher Kommunist gewesen. Und man musste Kommunist sein, um diese Schrift Lenins zu ertragen. Nicht schlecht kombiniert. Die holländischen Linksradikalen hatten nichts am Hut mit Stalin, seinen Jüngern und seinen Erben. Aber wenn es gegen die Deutschen ging, schrumpften die Unterschiede und der Wille, den Fraktionskampf fortzusetzen. Hätte Werdin dem Lokführer die Wahrheit gesagt, dann hätte der ihn womöglich aus dem fahrenden Zug geworfen. Kommunisten liebten die Vereinigten Staaten nicht, linksradikale Kommunisten schon gar nicht.
    ***
    »Sie fahren nach Deutschland, Boris Michailowitsch«, befahl Berija.
    »Noch in dieser Woche.«
    Grujewitsch hatte es gewusst. Nur zwei Tage nach dem Treffen mit Schellenberg in Stockholm kam per Funk die Einladung aus Berlin. Der Reichsführer höchstselbst wollte sich über die Absichten der Russen informieren. Und er wollte es nicht von Schellenberg hören, sondern von einem Boten Berijas. Den würden die Deutschen selbst abholen in Moskau. Sie boten an, eine Ju 56 mit Medikamenten und wissenschaftlichen Apparaten zu schicken und auf dem Rückflug Grujewitsch mitzunehmen. Die Ladung sei bestimmt für die Bevölkerung von Minsk. Für das, was von ihr übrig geblieben ist, dachte Grujewitsch. Und das wird ihr auch nichts nutzen. Die Strahlen der Uranbombe fraßen die Überlebenden auf. Wenn man die Menschen sah, fragte man sich, ob es nicht gnädig gewesen wäre, sie hätten das Inferno nicht überlebt. Nun gut, Berija war entschlossen, die Geste der Deutschen zu begrüßen. Was kratzten ihn die Toten und die Überlebenden? Es ging um die Macht im roten Reich.
    Er sah die viermotorige Maschine warten, das schwarze Balkenkreuz auf dem Leitwerk. Sie war entladen und betankt, ihre Motoren dröhnten. Er stieg die Treppe hoch und wurde vom Piloten und der kleinen Besatzung militärisch begrüßt. Der Pilot geleitete ihn zu seinem Platz, eine hübsche schwarzhaarige Flugbegleiterin machte ihm schöne Augen und brachte ein Glas Champagner. Sein Gepäck war schon zuvor verladen worden. Grujewitsch gefiel das Theater, das um ihn gemacht wurde. Er war der erste Sowjetemissär seit dem Krieg, der Berlin besuchte. Er tat den ersten Schritt zwar im Auftrag Berijas, aber der steckte schließlich nicht in seinen Schuhen. Das war etwas, was Grujewitsch sein Leben lang nicht vergessen würde, was immer bei alldem herauskommen sollte.
    Die Reise war so geheim, dass er weder Gawrina noch Anna etwas verraten durfte. Aber er

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