Der 21. Juli
eine Zerreißprobe zwischen Herz und Verstand. Am Ende siegte der Verstand. Es war nicht ungefährlich, denn ich musste jeden Tag damit rechnen, dass mich Müller an den Führer verriet.«
Am Ende siegte die Machtgier, dachte Grujewitsch. Und der Selbsterhaltungstrieb der SS.
Grujewitsch wurde zwischen Himmler und Goerdeler platziert.
»Wir würden uns freuen, wenn Herr Berija uns bald besuchen könnte. Wir wären aber auch bereit, zu ihm nach Moskau zu kommen«, sagte Himmler.
Goerdeler nickte. »Sagen Sie, das ist ja hier kein Staatsbesuch. Daher wage ich zu fragen, was denn an den Meldungen in ausländischen Zeitungen dran ist über einen Machtkampf in Moskau.«
»Wir haben eine kollektive Führung, ein Präsidium und ein Zentralkomitee, die gemeinsam die politische Linie festlegen«, antwortete Grujewitsch. Er wusste, dass er log. Er wusste, dass seine Zuhörer es ebenfalls wussten.
Himmler nickte, als wäre ihm eine großartige Neuigkeiten überbracht worden. »So habe ich mir das gedacht. Man kann ein so großes Reich wie die Sowjetunion nur mit einer starken und geschlossenen Führung regieren.«
Da hat er Recht, dachte Grujewitsch. Aber unsere Führung ist nicht geschlossen. Zurzeit zerfleischt sie sich gerade, kämpft Berija um die Macht. Und ich bin einer seiner Helfer.
Goerdeler stimmte Himmler zu. Dann sagte er: »Herr General, wenn Sie Herrn Berija bitte ausrichten, wir wollen eine Verständigung mit der Sowjetunion. Wir warten auf Ihre Vorschläge, wie diese Verständigung erreicht werden kann. Unsere Regierung wird sich als äußerst beweglich erweisen.« Er trank einen Schluck Champagner.
Himmler beugte sich zu Grujewitsch. »Und sollte Herr Berija vielleicht doch ein paar Sorgen mit Genossen im Präsidium haben, wir helfen gerne. Vielleicht nutzt ja die Zusage, dass wir bereit sind, sofort modernste Technik zu liefern. Auch Rüstungsgüter.«
Grujewitsch wusste dieses Angebot zu schätzen. Deutsche Militärtechnik genoss in Moskau einen guten Ruf, Dutzende von Agenten hatten sich bisher vergeblich bemüht, hinter die Geheimnisse der Raketen und der Strahlflugzeuge zu kommen.
Morgen würde Boris Grujewitsch nach Hause fliegen und melden, die Deutschen seien zu fast allem bereit. Wenn nur ein Pakt dabei herauskam. Ein Pakt gegen die Amerikaner.
***
Werdin war nass bis auf die Haut, es regnete dicke Tropfen ohne Pause. Obwohl es sommerlich warm war, begann er im Fahrtwind zu frieren. Sie hatten ihm ein gutes Fahrrad gegeben, er trat kräftig in die Pedale. Der Regen hatte auch sein Gutes, er dämpfte die Lust der Polizei auf Kontrollen. Werdin hatte noch kein Polizeiauto gesehen. Als er Grevenbroich erreichte, begann er sich sicherer zu fühlen. Jetzt spürte er die Erschöpfung, er war schnell gefahren. In einem Bushäuschen machte er Pause. Er entschloss sich, bis Pulheim weiterzufahren und dort eine Unterkunft zu suchen. Kurz vor Pulheim würde er seine SD-Uniform anziehen und sich in den Sturmbannführer Oskar Brockmann verwandeln. Sein Bild würde nicht in jedem Gasthof und Hotel hängen. Polizei und SD kannten seinen Decknamen nicht. Die Fahndung würde sich auf das Grenzgebiet konzentrieren. Je weiter er nach Deutschland hineinkam, desto sicherer durfte er sich fühlen. Wirklich sicher war er aber nirgendwo.
Der Regen ließ nach. Kurz vor Pulheim steuerte Werdin sein Rad in einen Feldweg. Hinter einem Busch zog er sich um. Der Koffer war durchweicht, aber die Uniform einigermaßen trocken geblieben. Die nasse Zivilkleidung packte er in den Koffer. Dann fuhr der SS-Offizier Oskar Brockmann nach Pulheim. Wenige hundert Meter nach der Ortseinfahrt entdeckte er ein Schild: Pension Ehrlich. Es war ein dreistöckiger, gepflegter Fachwerkbau. Werdin stellte das Fahrrad ab und klingelte. Er musste warten, bis er ein Schlurfen hörte. Die Tür wurde von innen entriegelt. Eine alte Frau, klein, gebückt, schaute von unten zu ihm hoch. Er grüßte und fragte, ob sie ein Zimmer für ihn habe.
»Leute wie Sie übernachten gewöhnlich in feinen Hotels«, sagte sie in rheinischem Singsang, während ihre Blicke über die Uniform streiften. Dann trat sie zur Seite. Sie reichte ihm das Meldeformular, er versprach, es noch am selben Abend auszufüllen.
Werdin bekam ein großes Zimmer mit Waschbecken unterm Dach. Das Bad war auf dem Gang. Das Zimmer roch muffig. Er öffnete das Fenster und hängte seine nasse Zivilkleidung über Stuhl und Waschbecken. Er hatte Hunger, es war Zeit, zu Abend zu
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