Der 21. Juli
sich ihrer Heldentaten im Krieg brüsten. Man muss nur mal in eine Kneipe gehen. Da sitzen sie, die Krieger, und erzählen, wie sie die Russen verhauen haben.«
Der vermeintliche Bankangestellte warf dem Oberst einen bösen Blick zu. Ob er sich gestört fühlte durch das Gespräch oder durch das, was der Oberst sagte?
Die junge Frau legte den Loreroman aufs Gepäcknetz und schloss die Augen. Sie hatte rote Backen bekommen.
»Ja, gewiss«, sagte Werdin, »aber wenn sie nicht in der Kneipe sitzen, arbeiten sie für den Aufschwung.«
Der Oberst nickte heftig. »Wir Deutschen sind ein fleißiges Volk. Wenn man einmal überlegt, der Krieg ist gerade acht Jahre vorbei, und uns geht es fast besser als vor 39. Bald gibt es keine Ruinen mehr. Und bald hat jeder, der ihn bestellt hat, seinen Volkswagen.«
Der Zug hielt in Hannover. Werdin ging in den Gang und schaute aus dem Fenster. Er entdeckte keine Polizisten. Es war, wie er es erwartet hatte. Sie kontrollierten nur in Grenznähe scharf. Auf dem Bahnsteig sah er Soldaten der WaffenSS in ihren feldgrauen Uniformen mit schwarzen Kragenspiegeln, Angehörige eines Artillerieregiments.
Der vermeintliche Bankangestellte verließ grußlos das Abteil. Auf seinen Platz setzte sich eine schöne junge Frau mit schwarzen Haaren, deren Kostüm und Koffer verrieten, dass sie aus besseren Kreisen stammte. Warum reiste sie in der zweiten Klasse? Werdin hob ihren Koffer auf die Gepäckablage über ihrem Sitz und erntete einen dankbaren Blick. Die Frau versenkte sich in eine Modezeitschrift.
Der Sommerabend brach an, als der Zug im Bahnhof Friedrichstraße hielt, Werdin stieg aus und sah sich um. Erinnerungen überfielen ihn. Der Bahnhof war sauber, und von den Zerstörungen war nichts mehr zu entdecken. Auf der Friedrichstraße pulsierte der Verkehr. Autos blockierten die Straße. An der Kreuzung mit der Dorotheenstraße warteten Menschen ungeduldig auf das Grün der Fußgängerampel. Frauen in leichten, bunten Sommerkleidern, Männer in schicken Anzügen oder im kurzen Hemd, Kinder in Turnhosen. Eine Frau sah Werdin an und schüttelte den Kopf. Sie fühlte sich angestarrt, aber er hatte sie nicht gesehen. Er spürte eine Schwäche in den Knien. Er war zu Hause.
Crowford hatte ihm das Hospiz im Zentrum Berlins in der Holzgartenstraße empfohlen. Ein Schweizer Vertrauensmann hatte behauptet, die Besitzer achteten nicht auf ihre Gäste. Was immer das hieß. Für Werdin hatte das Hospiz den Vorteil, dass es in der Nähe des Bahnhofs Friedrichstraße lag. Von dort konnte er schnell alle Stationen erreichen. Während der Zugfahrt hatte er entschieden, außer bei Irma sein Glück nur bei Rettheim zu versuchen. Wenn er noch lebte. Je mehr alte Bekannte Werdin aufsuchte, desto größer das Risiko, entdeckt zu werden. Bei Rettheim fühlte er sich sicher. Rettheim hatte kein gutes Wort über Himmler und die SS verloren. Werdin hoffte, es hatte sich nichts geändert daran.
Im Hospiz erhielt er ein Zimmer auf der Rückseite des Hauses. Ein alter Mann mit dicken Brillengläsern erklärte ihm den Weg. Den Meldezettel könne er später ausfüllen. Das Zimmer war erfreulich hell und ruhig. Es war spärlich, aber ausreichend eingerichtet.
Zuerst aber würde er Irma suchen. Vielleicht wohnte sie noch in Biesdorf im Kornmandelweg. Nur so konnte er es sich erklären, dass sie ihm ihre Adresse nicht aufgeschrieben hatte.
Er wusch, rasierte und kämmte sich. Ein letztes frisches Hemd hatte er noch im Koffer, er mühte sich vergeblich, es glatt zu streichen. Missbilligend betrachtete er seine zerknitterte und fleckige Hose. Er packte seine schmutzige Wäsche in ein Hemd und gab sie am Empfang ab, damit sie gewaschen wurde. Dann lief er zum Bahnhof Friedrichstraße, kaufte einen S-Bahn-Fahrschein und setzte sich in den Zug nach Strausberg, der ihn direkt nach Biesdorf bringen würde. Er stellte sich vor, dass die Mellenscheidts gemeinsam beim Abendessen saßen, wenn er klingelte. Die Bahn rumpelte, er schaute auf die Baustellen der Stadt. Bald würde nichts mehr zeigen, dass Krieg gewesen war. Es war ein merkwürdiges Gefühl, in Berlin mit der S-Bahn fahren zu können, ohne zu fürchten, dass ein Bombenangriff einen überraschte.
Wenn Werdin die Augen schloss, konnte er die Sirenen hören. Sie schwollen an und ab und warnten die Menschen vor dem Tod aus der Luft.
Er öffnete die Augen und sah, wie die Sonne über der Stadt unterging. Die Nacht brach an. Er war auf dem Weg zu Irma.
***
»Was für
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