Der 21. Juli
essen.
Er legte den Meldezettel ausgefüllt auf den Tresen und verließ die Pension in Richtung Ortsmitte. Schon von weitem erkannte er die Gaststätte Feierabend . Im Gastraum saßen fünf Männer um einen Tisch. Vor sich hatten sie Bier und Korn stehen. Sie schienen bereits leicht angetrunken zu sein. Werdin setzte sich in eine Ecke. Der Wirt mit speckiger Lederschürze nahm die Bestellung entgegen, Wurstplatte und ein Bier. Werdin hatte seit seiner Flucht keine deutsche Wurst mehr gegessen. Der fremde, vertraute Geschmack weckte Erinnerungen. An seine Kindheit, an Pausenbrote, die seine Mutter ihm geschmiert hatte. Er dachte an Margarete mit ihren Marmeladenbroten auf Ersatzbutter. Die Männer am anderen Ende des Raums betranken sich und lärmten.
Er bezahlte, stand auf und ging zum Ausgang. Da stand einer der angetrunkenen Männer auf und brüllte: »Heil Hitler, Sturmb annführer!«
Werdin riss automatisch den Arm hoch zum deutschen Gruß, es war ein alter Instinkt.
Die Männer brüllten vor Lachen. »Guck mal, der hat es noch gar nicht gemerkt!«, schrie einer mit schwerer Zunge. Erst da fiel es Werdin ein. Der deutsche Gruß war schon kurz nach dem Attentat abgeschafft worden, als Zeichen der Trauer um den Führer, wie es offiziell hieß. Werdin ging schneller. Die Angst erfasste ihn. Das Grölen wurde leiser.
Als er am Abend im Bett lag, hatte er sich beruhigt. Morgen in Köln würde er den Zug nach Berlin nehmen. Zu Irma.
Der Kölner Hauptbahnhof zeigte keine Kriegsspuren mehr. Die Menschen strömten in alle Richtungen, Werdin schaute sich die Geschäfte im Bahnhof an, während er auf seinen Zug wartete. Er trug seine Zivilkleidung, die über Nacht getrocknet war. An einem Zeitungsstand las er die Schlagzeilen. Sie berichteten von Wiederaufbau, Wirtschaftswunder und Deutschlands neuer Stärke. In einem anderen Regal lag eine Heftreihe Helden des Kriegs . Es gab Biografien über Rommel, Manstein, Rudel, Prien und natürlich über Helmut von Zacher, den Piloten, der die Uranbombe nach Minsk geflogen hatte.
Im Zug nach Berlin drängten sich die Menschen. Werdin räumte seinen Platz in einem Abteil der zweiten Klasse für eine alte Dame, die sich kaum zu einem Dankeschön durchringen wollte. Er setzte sich im Gang auf seinen Koffer und musste jedes Mal aufstehen, wenn jemand vorbei wollte. In Dortmund stieg die Dame aus, sie würdigte Werdin keines Blicks. Er setzte sich wieder auf seinen Platz. Werdin streckte die Beine aus, so weit es die Enge im Abteil zuließ. Er musterte die Mitreisenden. Ihm gegenüber am Gang saß ein Oberst der Infanterie mit Beinprothese, er schlief. Manchmal hörte man ihn röcheln. Neben ihm, auf dem Mittelplatz, las eine junge Frau mit leuchtenden Augen einen Loreroman. Am Fenster neben ihr döste ein alter Herr, der seinen Hut nicht abgenommen hatte. Ihm vis-à-vis studierte ein geschniegelter Typ mittleren Alters durch runde Brillengläser Papiere. Er sah aus wie ein Bankangestellter auf Dienstreise. An Werdins Seite saß ein junger Mann, den man für einen Studenten halten konnte.
Als sie Hamm hinter sich gelassen hatten, erschien ein müder Schaffner, gelangweilt knipste er die Fahrkarten. Man hätte ihm auch einen Bierdeckel hinhalten können, dachte Werdin.
»Fahren Sie auch bis Berlin?«, fragte der junge Mann. Er schaute Werdin freundlich an.
»Ja«, sagte Werdin.
»Auf Geschäftsreise?«
»Dienstreise«, antwortete Werdin. »Ich arbeite bei der Polizei.«
Der Oberst warf einen kurzen musternden Blick auf Werdin.
»Das muss ja aufregend sein«, sagte der junge Mann.
»Ach gar nicht, ich sitze nur am Schreibtisch«, antwortete Werdin. Er musste das Gespräch in eine andere Richtung lenken. »Sie studieren wohl?« »Ja«, sagte der junge Mann. Er strahlte. »Medizin, es ist großartig. Unser Professor ist eine Weltkoryphäe.«
»Tatsächlich«, sagte Werdin.
»Das ist wohl der Professor Mengele, von dem man so viel in den Zeitungen liest«, warf der Oberst ein.
»Genau«, erwiderte der Student. »Es gibt bestimmt niemanden, der den menschlichen Körper so gut kennt wie der Professor.«
»Er soll ja im Krieg an Geheimprojekten gearbeitet haben«, sagte der Oberst.
Der Student nickte eifrig. »Darüber hört und liest man ab und zu etwas. Aber der Professor sagt darüber nichts. Er protzt nicht mit seinen Taten, er ist ein bescheidener Mann. Und er tut alles für seine Studenten.«
»Das ist ja fast eine Ausnahme«, sagte der Oberst. »Es gibt so viele, die
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