Der 21. Juli
Wewelsburg hatte Werdin nie betreten. Aber aus Erzählungen von Kameraden wusste er, dass es keinen Schleichweg ins Innere gab. Nur ein Eingang führte ins Hauptgebäude der von Postenringen weiträumig abgeschirmten Burg. Er war leicht zu sichern. Unterwegs wurde Himmler von einer schwer bewaffneten Eskorte bewacht; wenn er nicht flog, fuhr er in einem gepanzerten Auto. Eine starke Kampfeinheit könnte Himmlers Wachmannschaft niederkämpfen, aber nicht ein einzelner Mann.
Crowford hatte ihm ausgezeichnet gefälschte Personaldokumente überreicht. Den SS-Sturmbannführer Oskar Brinkmann gab es wirklich, allerdings vermutete Crowford ihn in dem von den Deutschen besetzten Teil des ehemaligen Polens. Das jedenfalls hatte ein Spitzel verraten, der in der Schweizer Botschaft in Berlin arbeitete, sich gerne ein paar Mark dazuverdiente und sich in Sicherheitskreisen gut auskannte. Es wäre ein übler Zufall gewesen, wenn Werdin unter zwei Millionen SS-Männern ausgerechnet auf Brinkmanns besten Freund gestoßen wäre. Nur, auszuschließen war es nicht.
Hinzu kam etwas, das womöglich noch bedrohlicher war. Jeder größere Wachtposten war per Funk mit der SS-Zentrale in Berlin verbunden, dort stand die neue Wunderwaffe des Deutschen Reichs, die Automatische Rechenmaschine Z5 des Mathematikgenies Konrad Zuse, deren Entwicklung Himmler mit allen Mitteln vorangetrieben hatte. Crowford hatte mit einem ehrfurchtsvollen Unterton erläutert, Z5 sei ein deutscher Computer , dessen Leistungen die der amerikanischen Maschinen bei weitem übertreffe. Es genügte, dass ein Posten die Daten des Dienstausweises des SS-Sturmbannführers Oskar Brinkmann nach Berlin funkte, und binnen weniger Minuten würde ein Fernschreiber dem Posten mitteilen, ob es diesen SS-Offizier überhaupt gab.
Crowford und seine Leute verschwiegen ihm die Hindernisse nicht, die er überwinden musste. Wie er aber seinen Auftrag erfüllen sollte, konnten sie ihm nicht sagen. Wenn er überhaupt eine Gelegenheit bekam, Himmler zu töten, und mehr als eine würde er nicht bekommen, dann ergab sie sich in einer Situation, die nicht vorhersagbar war. Er musste sich in der Nähe des Reichsführers-SS aufhalten, wenn diese Gelegenheit eintrat. Unwahrscheinlich plus unwahrscheinlich ist gleich unmöglich, dachte Werdin, als Crowford die Einweisung beendet hatte.
Als er auf der Veranda seines Hofs saß, dachte er weniger an
Himmler als an Irma. Eigentlich war es ihm egal, ob er Himmler tötete. Er hatte mit ihm und der SS längst abgeschlossen. Wenn Himmler starb, folgte ihm ein anderer, Schellenberg vielleicht, das wäre die raffinierte Variante. Oder der brutale und perfide Kaltenbrunner, das wäre die rabiate Variante. Keine der beiden Möglichkeiten würde die SS weniger mörderisch machen, keine ihre Macht verringern.
Werdin hatte Crowford nach dem Gespräch mit Dulles nicht mehr nach Irma gefragt. Es ging diese Leute nichts an. Er wusste, wo er zu suchen hatte, und er hatte eine Idee, wie er es anstellen würde. Hatte er Irma gefunden, dann mochte Himmler ihm vor den Lauf seiner Walther geraten. Oder auch nicht.
Heinrich knurrte, als Werdin mitten in der Nacht aufstand. Werdin ging in die Küche und goss sich ein Wasserglas Tequila ein. Er trank hastig und hoffte, der Alkohol würde ihn einschlafen lassen. Heinrich schnurrte, als Werdin ins Bett zurückkam. Mit offenen Augen lag Werdin auf dem Rücken und hoffte, der Alkohol würde die Unruhe aus ihm vertreiben. Langsam wurden Kopf, Arme und Beine schwer.
Der Schlaf griff nach ihm, aber kaum war er eingeschlafen, sah er sich umringt von feldgrauen Uniformen, den Reichsadler am linken Oberarm, die rahmenlose Raute mit der Aufschrift SD unten auf dem Ärmel. Er wachte wieder auf, brauchte einige Sekunden, sich zu vergewissern, dass er zu Hause war. Zu Hause?, dachte er. Er war hier nicht zu Hause. Er wohnte hier. Wieder half der Alkohol, diesmal wurde er von Feldgrauen gejagt, er hörte das Stampfen ihrer Stiefel, das Ratatatat der Maschinenpistolen, an seiner Seite eine blonde Frau im hellblauen Sommerkleid, barfuß. Dann sitzen sie im Boot. Ein heller Einzelschuss im Geratter der Maschinenpistolen. Die Frau ist weg, eine Hand aus dem schwarzbraunen Wasser greift nach ihm. Sie kann ihn nicht erreichen. Ein Foto taucht auf, dieselbe Frau, blutige Einschusslöcher im Körper, vor einem braun verputzten zweistöckigen Haus inmitten eines blühenden Gartens, an ihrer Seite ein Junge mit Werdins Gesicht. Auf der
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