Der 21. Juli
rechthaberisch gesagt. »Wir haben den Krieg schließlich doch gewonnen, wenigstens nicht verloren«, sagte er verbittert in seinem derben bayerischen Dialekt. Ihm fiel nicht auf, dass er eine gespaltene Seele hatte.
Eine seltsame Erscheinung, dachte Grujewitsch. Dieser biedere Müller, verantwortlich für so viele Tote, war ein Freund der Sowjetunion. Fast ein Jahrzehnt lang hatte Müller die Kommunisten in Deutschland verfolgt. Dann war er abgehauen, etwas zu früh, wie sich herausstellte. Berija hatte ihn in Moskau erst wie einen kleinen Zaren empfangen und dann ausgequetscht wie eine Zitrone von der Krim. Und nun saß Müller in einem Lager in Sibirien und konnte nachdenken, warum er zu früh den Glauben an den Endsieg verloren hatte und übergelaufen war, um der Rache der vermeintlichen Sieger zu entgehen. Grujewitsch spürte kein Mitleid mit ihm. Der würde alle verraten, wenn es um seine Haut ging.
Die Frühlingssonne weckte Grujewitsch aus einem leichten Schlaf. Schließlich war er doch eingenickt, die Erschöpfung hatte über die Aufregung gesiegt. Er schaute auf die Uhr und sprang auf. Ein kurzes Räuspern, dann griff er zum Telefonhörer: »Den Genossen Berija, es eilt.«
Nur zehn Minuten später saß Grujewitsch dem kleinen bleichen Georgier gegenüber. Berija blinzelte durch seinen Zwicker mit den runden Gläsern, schaute auf Grujewitsch und dann auf die Funksprüche. »Das ist nicht viel, Grujewitsch«, sagte er. Er verfiel in Schweigen. Grujewitsch spürte, wie sein linker Fuß auf dem Boden zitterte, ohne dass er es kontrollieren konnte. Die Kopfhaut wurde heiß, Grujewitsch fürchtete die ersten Schweißtropfen auf der Stirn. Berija streckte sich, beugte sich wieder über die Papiere, die auf seinem Schreibtisch lagen. Dann fixierte er Grujewitsch mit seinen blassgrauen Augen.
»Das kann auch eine Falle sein«, sagte Berija. »Ich hoffe, Sie wissen das.«
»Ja, Genosse Berija, es kann eine Falle sein.«
»Und das würde bedeuten, dass ich nach Schweden oder in die Schweiz reise und dort entführt oder ermordet werde«, sagte Berija mit leiser Stimme. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie das wollen, Grujewitsch.«
»Nein, Genosse Berija, ich dachte nur ...«
»Ja, ja, ich weiß. Es ist immer gut, wenn Genossen im Ministerium denken.« Berija lächelte. »Aber Gedanken können gefährlich sein.«
Berija verfiel in Schweigen. Er stand auf und ging zum Fenster seines Büros, das auf den Innenhof der Lubjanka schaute. Von hier konnte er die nächtlichen Aktionen des Staatssicherheitsdienstes gut verfolgen. Die schwarzen Kleintransporter fuhren aus, und fast jedes Mal brachten sie Staatsfeinde mit. Er, Berija, hatte die wilden Verfolgungen beendet. Sie waren notwendig gewesen, um die Schädlinge selbst im letzten Winkel des Sowjetreichs aufzustöbern. Es gab unschuldige Opfer, aber sie waren der Preis für das Überleben der Sowjetmacht. Sie hatte überlebt, war dies nicht Beweis genug, dass sie richtig gehandelt hatten?
Berija drehte sich um zu Grujewitsch, das Fenster im Rücken. »Grujewitsch«, sagte er, »ich werde nicht ins Ausland fahren. Die Sowjetunion braucht mich jetzt mehr als jemals zuvor. Wäre der Genosse Stalin noch am Leben, es wäre etwas anderes. Aber wir leben in einer Zeit des Übergangs, solche Zeiten sind gefährlich.«
Berija setzte sich wieder hinter seinen Schreibtisch. Er schob die Funksprüche zu Grujewitsch, der ihm gegenübersaß: »Sie werden reisen, Grujewitsch. Kundschaften Sie aus, was die Deutschen wollen. Oder wer immer hinter der Sache steckt. Sie sind schließlich der Chef unserer Gegenspionage.«
Grujewitsch hatte seinen Fuß wieder unter Kontrolle. Die Angst wich einer Spannung, die in dem Maß wuchs, wie er sich bewusst machte, was Berijas Befehl für ihn bedeutete. Er hatte nun alle Chancen, Held der Sowjetunion zu werden. Oder den Genickschuss zu bekommen im Keller eines ehemaligen Klosters, in dem die Staatssicherheit Todeszellen eingerichtet hatte.
Grujewitsch war erleichtert. Was immer geschehen mochte, er hatte Zeit gewonnen, Zeit für sich und Zeit für Anna. Als Staatsfunktionär dachte man nicht weit in die Zukunft.
Grujewitsch erhob sich, nahm Haltung an und sagte: »Ich diene der Sowjetunion, Genosse Berija.«
Heute hatte er nur noch eine Sorge: Würde Anna sich mit ihm versöhnen? Er musste es versuchen.
Das Herz raste. Hemd und Hose klebten am Körper, salziger Schweiß brannte in den Augen. Werdin war zufrieden. Er hatte es
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