Der 21. Juli
geeignete Zeitpunkt.
Rettheim war verdutzt, als er Werdin vor der Tür erblickte. »Du hast es aber eilig«, sagte er grinsend. »Komm rein.« Als Werdin im Flur stand, fragte Rettheim leicht verunsichert: »Ist was passiert?«
Rettheim trug ein sauberes Uniformhemd, die Hosenfalte war messerscharf, die Haare gewaschen und wie mit dem Lineal frisiert. Werdin freute sich, der Mann hatte wieder Tritt gefasst, er hatte sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf gezogen. Rettheim soff nicht mehr, ein, zwei Gläschen Schnaps, dann war Schluss. Der Major blühte auf in seiner neuen Aufgabe. Sie war wichtiger als alle Siege, die er über die starken russischen T 34 errungen hatte.
»Nein, nichts passiert«, sagte Werdin. »Ich war gerade in der Gegend. Hast du einen Tee?«
Er folgte Rettheim in die Küche. Der Major zündete mit einem Streichholz den Gasherd an, füllte einen fleckigen Emaillewasserkessel am Wasserhahn und setzte ihn aufs Feuer. Er nahm zwei Becher aus dem Küchenschrank und eine Blechdose, aus der er Tee in eine rote Porzellankanne gab. Aus einer Schublade holte er ein Sieb. Rettheim verrichtete dies alles behänd und schweigend. Das Wasser begann zu summen. Als es sprudelte, nahm er den Kessel vom Feuer, drehte die Gasflamme zu und goss das heiße Wasser in die Kanne. Er warf einen kurzen Blick auf seine Armbanduhr. »Ich lass ihn ein bisschen länger ziehen«, sagte Rettheim. »Das ist alles auch so schon aufregend genug.« Er setzte sich zu Werdin an den Küchentisch.
»In wenigen Wochen, vielleicht sogar Tagen geht es los«, sagte Rettheim. »Stauffenberg will möglichst viele Nazis ins Jenseits befördern. Auf jeden Fall auch Himmler und Göring.«
Werdin schaute ihn fragend an: »Ist das sicher?«
Rettheim nickte.
Ist es gut, ist es schlecht?, überlegte Werdin. Wenn die Naziprominenz tot war, wuchs dann nicht die Gefahr eines Separatfriedens mit den Amerikanern und Engländern? Das war jedenfalls das Ziel einiger Verschwörer. Noch stand die Rote Armee nicht auf deutschem Boden. Wenn die Invasion erfolgreich war und die neue Reichsführung im Westen kapitulierte? In Moskau gab es immer Zweifel an der Bündnistreue der Westalliierten, das wusste Werdin. Sie wuchsen, als sich die Zweite Front immer weiter verzögerte und die Sowjetunion den Krieg fast allein austragen musste. Hofften da in Washington vielleicht ein paar ganz kluge Strategen, Russen und Deutsche würden sich gegenseitig schwächen, damit am Ende die USA die Weltherrschaft antreten konnten? Werdin konnte nur Vermutungen anstellen, die kurzen Funksprüche, die er mit Moskau austauschte, halfen ihm nicht bei seiner Suche nach Orientierung in dem Wirrwarr der Interessen und Möglichkeiten. Der Direktor beschränkte sich auf allgemeine Phrasen, er hatte wohl Angst, sich festzulegen. Man hätte ihm ja daraus einen Strick drehen können.
Wenn nur Hitler starb, die anderen Obernazis aber überleb - ten, dann hatten es die Westalliierten schwer, sollten sie wirklich einen Separatfrieden schließen wollen. Sie konnten es der Öffentlichkeit in ihren Ländern nicht verkaufen, dass Himmler, Göring und Goebbels nun keine Massenmörder mehr sein sollten, sondern Bündnispartner in einem neuen Krieg gegen den tapferen Uncle Joe und seine Bolschewiken.
Rettheim setzte das Sieb auf Werdins Becher und goss Tee ein, dann füllte er seinen Becher. Werdin nahm sich zwei Zuckerstücke und rührte den Tee bedächtig um, während Rettheim sich eine Zigarette anzündete.
»Himmler muss überleben«, sagte Werdin, »der auf jeden Fall. Göring und Goebbels möglichst auch.«
»Du spinnst«, erwiderte Rettheim. »Soll doch die ganze Mischpoke zum Teufel gehen.«
»Wenn ihr Himmler umlegt, kommt Kaltenbrunner dran.« Werdin hatte die brutale Fresse des Chefs des Reichssicherheitshauptamts vor Augen. »Das ist der Hitler-Treueste der Hitler-Treuen. Wenn der am Drücker ist, habt ihr die SS gegen euch, wenigstens große Teile. Und glaubt bloß nicht, dass die Wehrmacht geschlossen auf eurer Seite steht. Gut möglich, dass meine Freunde von der Gestapo euch unter dem Beifall der Herren Marschälle fertig machen.«
»Scheißspiel«, sagte Rettheim. »So ein Scheißspiel.« Er zog kräftig an seiner Zigarette und streifte die Asche ab. »Wir beseitigen den einen Obermörder, und dann machen wir auf gut Freund mit dem anderen. Völlig verrückt. Das Heldenepos des deutschen Widerstands!« Er lachte bitter.
Sie saßen eine Weile schweigend beieinander und
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