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Der 21. Juli

Der 21. Juli

Titel: Der 21. Juli Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Ditfurth
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davonzukommen.
    Das 12-Uhr-Blatt triefte vor Häme. Die Nordamerikaner und die Briten sollten nur kommen, sie würden sich am Atlantikwall blutige Köpfe holen. Dann würde Deutschland alle seine Streitkräfte an die Ostfront werfen, um die Bolschewisten auszurotten und damit das Haupt der jüdischen Verschwörung gegen die zivilisierte Welt. Ganz falsch ist es nicht, dachte Werdin. Wenn die Invasion scheitert, kann der Krieg noch lange dauern. Womöglich gelang es der Wehrmacht, die Ostfront zum Stehen zu bringen, vielleicht konnte sie auch wieder Gegenstöße führen. Aber mit dem Endsieg würde es nichts mehr werden.
    Der Ober stolzierte zu der Mutter mit ihren beiden Töchtern, kassierte ab, verneigte sich knapp und steuerte einen Tisch im Rauminneren an. Die Frau stand auf und verließ mit ihren Mädchen das Café. Sie drehte sich noch einmal um und musterte Werdins Dienstuniform. Ihr Gesicht sah ungesund blass aus. Sie brauchte die Tür nicht zu schließen, sondern gab die Klinke einer älteren Dame in die Hand, die in Begleitung einer Jüngeren das Café betrat. Die junge Frau hatte streng nach hinten gebundene, lange goldblonde Haare. Sie schaute erst nach links, dann nach rechts, in Werdins Richtung. Er hielt kurz den Atem an. Er sah keine Schminke in ihrem schmalen Gesicht, ihre großen braunen Augen strahlten Selbstbewusstsein aus, ihre feine Nasenspitze zeigte leicht nach oben, der Mund lächelte. Kein Schmuck, ein schlichtes, blümchengesprenkeltes hellblaues Sommerkleid über einem schlanken Körper mittleren Wuchses. Ein Engel in einer Welt verhärmter Gesichter. Als gäbe es keine Toten, keine Krüppel, kein Leid, keine Trauer.
    Werdin hatte die unerreichbaren Schauspielerinnen im Kino gesehen, Olga Tschechowa, Leny Marenbach, Kristina Söderbaum und all die anderen schönen Träume der Männer an den Fronten aus einer Glitzerwelt, in der kein Blut floss und Schmerzen allenfalls im rosaroten Wochenbett erlebt wurden. Der Stolz dieser makellosen Frauen diente nur dem Zweck, von makellosen Männern gebrochen zu werden. Nie aber hatte Werdin eine Frau von so natürlicher Selbstsicherheit gesehen, sie war ganz sie selbst, sie brauchte keine Maske.
    Idiot, schalt Werdin sich. Siehst eine schöne Frau und phantasierst Eigenschaften in sie hinein, die allein deinen Wünschen entspringen. Mach dich nicht zum Hampelmann.
    Die blonde Frau setzte sich mit ihrer älteren Begleiterin an den Nebentisch. Werdin zwang sich, seine Zeitung weiterzulesen. Von Wunderwaffen war die Rede, sie würden die Feinde zum Staunen bringen. Er glaubte kein Wort, Durchhalteparolen. Goebbels würde noch vom Endsieg schwafeln, wenn die Feinde vor Berlin standen. Er legte das Blatt auf den Tisch, trank einen Schluck Tee. Sein Blick wurde zum Nachbartisch gezwungen. In diesem Moment schaute die junge Frau zu ihm, ihre Augen blieben einen Moment hängen, er lächelte. Sie lächelte zurück, blickte dann auf seine Uniformjacke und wandte ihren Kopf abrupt ab. Es kam ihm vor, als steuerte ihn eine fremde Macht, es war der Zauber, der von der Frau am Nachbartisch ausging. Er spürte seinen Magen zittern. Hoffentlich werde ich jetzt nicht rot, dachte er.
    Die junge Frau unterhielt sich mit ihrer Begleiterin. Wahrscheinlich ihre Mutter, sie hatte eine ähnliche Statur, aber nicht diesen ruhigen und selbstsicheren Blick. Er griff nach seiner Zeitung, linste aber über den Rand immer wieder hinüber. Die Blonde schaute nicht mehr zu ihm. Es war vorbei, der Zauber hatte sich von ihm abgewandt. Werdin spürte, wie seine Laune sank. Es ist besser so, du kannst dir Liebe nicht leisten, es ist Krieg, und du kämpfst auf Glatteis. Wer sich mit dir einlässt, wird kaum überleben. Jede Ablenkung von deiner Aufgabe kann dich umbringen. Die Frau zieht dich so stark an, weil du so lange auf eine feste Bindung verzichten musstest. Wenn du dich mit ihr einlässt, bringst du sie in Gefahr. Aber was heißt einlassen, sie hatte einen Blick auf die SD-Uniform geworfen, und das war’s.
    Die Tür wurde aufgerissen, es erschienen drei Ledermäntel, verstärkt durch ein paar uniformierte Polizisten. »Ausweiskontrolle!«, brüllte einer. Die Helden von der Gestapo auf Judenjagd. Draußen auf der Straße parkte ein dunkelgrüner Kastenwagen, dahinter zwei schwarze Mercedes-Limousinen. Müllers Jäger hatten womöglich einen Tipp bekommen, sie ließen wenige Juden eine Zeit lang am Leben unter der Bedingung, dass sie U-Boote verrieten. Im Café Kranzler errangen

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