Der 21. Juli
tranken Tee, Rettheim rauchte eine Zigarette nach der anderen.
»Wenn der Putsch erfolgreich ist, wenigstens am Anfang, dann wird Himmler sich als Retter des Vaterlands aufspielen. Das ist die große Rolle, von der er träumt, wenn er denn träumt. Wenn ihr es klug anstellt, dann wird er Müller opfern als Sündenbock. Irgendwer muss ja verantwortlich gemacht werden für die Morde. Das wäre die große Stunde für Schellenberg, der drängt den Reichsführer schon länger zur Mäßigung. Selbst Kersten, Himmlers Masseur, soll ihm fromme Wünsche einflüstern.«
»Wenn wir Himmler umbringen, haben wir die SS gegen uns. Wenn wir ihn leben lassen, könnte es sein, dass er uns hilft. Soll ich das so verstehen?«
»Wenn du jetzt noch den pessimistischen Unterton weglassen könntest, würde ich dich als meinen Musterschüler loben.«
»Idiot«, sagte Rettheim.
Werdin war sich nicht sicher, ob es richtig war, was er Rettheim riet. Aber er hatte keine Wahl. Die Propagandasendungen von Radio Moskau halfen nicht weiter, und Fritz würde sich kaum auf Spekulationen einlassen. Er hatte 1939 am Pakt zwischen Stalin und Hitler laut gezweifelt und wäre fast aus der Partei ausgestoßen worden. Solche Erfahrung macht vorsichtig.
Am frühen Nachmittag verließ Werdin die Wönnichstraße und nahm die U-Bahn zur Friedrichstraße. Fritz durfte er erst am Abend besuchen, so war es vereinbart. Werdin gab sich an diesem Nachmittag frei, er brauchte Zeit, um das Durcheinander in seinem Kopf zu ordnen. Die Umstände hatten ihm mehr Verantwortung aufgeladen, als er überblicken konnte. Er musste entscheiden, wusste aber nicht, welche Entscheidung sich am Ende als richtig erweisen würde. Nicht zu entscheiden wäre auch eine Entscheidung. Also musste er das sortieren, was er wusste oder ahnte, und daraus Folgerungen ziehen. Seine Angst wuchs in dem Maß, wie er erkannte, dass seine Entschlüsse den Kriegsverlauf mitbestimmen konnten.
Er musste stehen in der vollen U-Bahn, viele trauten sich nicht mehr, die S-Bahn zu benutzen. Unter der Erde fühlten sich die Berliner sicherer. Die Sonne schien, nur wenige Wolken standen am Himmel. Ein idealer Bombentag, dachte Werdin. Als der Zug am Bahnhof Friedrichstraße hielt, hörte Werdin es auch schon dumpf grollen. Die fliegenden Festungen der Amerikaner setzten das nächtliche Zerstörungswerk der englischen Bomber fort. Sie nahmen sich offenbar einen östlichen Bezirk vor, vielleicht Lichtenberg oder Friedrichshain. Werdin wartete, bis die Sirenen Entwarnung gaben, und sah sich dann an, was von Berlins elegantester Promenade geblieben war. Wer die Stadt zur Vorkriegszeit kannte, hatte die Bilder noch im Kopf von den luxuriösen Geschäften, dem bunten Treiben, den vornehmen Cafés. Die Feinde würden am Ende die gesamte Innenstadt in eine Steinwüste bomben, wenn der Krieg noch lange weiterging. Nur einige unversehrte Fassaden kündigten von der Pracht früherer Tage. Immerhin, das Café Kranzler gab es noch. Er hatte sich schon lange nicht mehr Tee und Kuchen gegönnt. Er kaufte sich an einem Zeitungsstand ein 12-Uhr-Blatt, obwohl er wusste, er würde sich über die Lügen schwarz auf weiß wieder nur ärgern. Manchmal aber bewunderte er es geradezu, mit welcher Frechheit die Presse die Wahrheit verbog, sei es der Völkische Beobachter , die B. Z. oder eben das 12-Uhr-Blatt.
Im Kranzler fand er einen freien Tisch nahe dem Eingang. Er setzte sich und ließ seinen Blick über das Treiben in dem gut gefüllten Saal schweifen. Es wurde Zeit, dass er mal wieder unter normale Menschen kam. Werdin amüsierte sich über den fein herausgeputzten Oberkellner, der majestätisch durch sein Königreich stelzte. Er konnte ein leichtes Hinken nicht überspielen. An einem der beiden Tische direkt an der Tür saß eine Mutter mit zwei Mädchen, so um die zwölf bis vierzehn Jahre. Die Kinder schnatterten und beachteten kaum ihre Mutter, die über die Gäste hinweg in den Saal starrte. Einen Tisch weiter entdeckte Werdin ein älteres Ehepaar, feine Leute, sie mit einem Pelzhut, den an der Vorderseite eine silbrig glänzende Perle zierte. Er hätte kein Merkmal dafür nennen können, aber plötzlich war der Verdacht da. Es waren Juden. Er hatte gehört von Juden, die untergetaucht waren, um nicht in den Osten verschleppt zu werden, sie wurden U-Boote genannt. Immer wieder wurden welche aufgegriffen, verraten auch von eigenen Leuten. Werdin bewunderte den Mut dieser Menschen. Eigentlich hatten sie keine Chance
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