Der 21. Juli
mit der Telefonnummer. Er nahm sich vor, am Abend anzurufen. Was dann würde, wusste er nicht. Zuvor aber musste er noch klären, ob er verfolgt wurde. Wenn er zu den Mellenscheidts fuhr, dann nicht mit einem Mörder im Schlepptau. Ob Wehling sich ein zweites Mal übertölpeln ließ? Ein gelernter Auftragsmörder war er nicht, sonst hätte er sich nicht überraschen lassen. Einen Russen konnten sie nicht schicken, er hätte in Deutschland keine Chance. Also mussten sie einen Russlanddeutschen oder einen Emigranten nehmen. Wenn Krause den Sachsen erwischte, müsste Werdin damit rechnen, dass der Mann auspackte. Beim nächsten Zusammentreffen würde er Wehling töten müssen. Nicht nur, um ihm zuvorzukommen.
Würde der Mörder ihn zu Hause erwarten? Eher nicht, dort hatte er einen Fehler gemacht. Er weiß, dass ich darauf vorbereitet bin. Was würdest du machen, wenn du diesen Auftrag erfüllen müsstest?, fragte sich Werdin. Ich würde mich meinem Opfer an die Fersen heften und auf meine Chance warten. Ein Schubser auf dem Bahnsteig. Ein Schuss oder ein Messerstich im Chaos nach dem nächsten Bombenangriff. Werdin musste Wehling töten, sobald wie möglich, sonst würde er ihn nicht los. In der Pistolentasche am Gürtel trug er seine durchgeladene Walther. Es war unbequem, die schwere Pistole mit sich herumzuschleppen. In der Jackentasche seiner Uniform steckte ein Stilett, das er in Rotterdam einem Belgier abgenommen hatte, der für England spionierte. Aber was nutzten ihm Waffen, wenn er überrascht wurde?
Plötzlich hatte er eine Idee, eine kleine Chance. Wehling würde vielleicht auch Fritz überwachen wollen. Kaum möglich, dass er in der kurzen Zeit von Fritz’ Verhaftung erfahren hatte. Es sei denn, er riskierte es, dessen Nachbarn zu befragen. Wenig wahrscheinlich, dass die einem wildfremden Mann Auskünfte gaben, schon gar nicht über eine Aktion der Gestapo. Werdin machte sich auf den Weg nach Lichterfelde. Je näher er der Elmshorner Straße kam, umso vorsichtiger bewegte er sich. Er schlich sich durch Seitenstraßen von hinten bis auf zwei Blöcke an das rot geklinkerte Haus heran, aber er sah nichts Verdächtiges. Näher heran traute er sich nicht. Werdin beschloss zu warten, bis es dunkel wurde.
Er kehrte in einem großen Bogen zur Finckensteinallee zurück. Am S-Bahnhof kaufte er sich den Völkischen Beobachter. Das Naziblatt trug einen fetten Trauerrand, auf der Titelseite ein Heldenporträt des Führers. »Wir müssen nun allein weiterkämpfen«, stand da. Und: »Jetzt erst recht!« Das klang wie Goebbels, nur saß der schon im Gefängnis und wartete auf den Prozess. Sein Ministerium würde bald aufgelöst, dafür wollten die neuen Herren ein Informationsministerium gründen. Wenn Berichterstattung und Kommentierung des Völkischen Beobachter s der Maßstab waren, hätten sie das Propagandaministerium allerdings auch weiterarbeiten lassen können.
In einer kleinen Notiz wurde gemeldet, dass Julius Streicher wegen Korruptionsverdachts verhaftet worden sei. Sein Lügenblatt, der Stürmer, wurde geschlossen. Gepriesen wurde Mansteins neue Strategie: den Feind kommen lassen und dann hart zuschlagen. Mit den Feinden des Reichs ging der VB hart ins Gericht, weil sie das Friedensangebot des Generalfeldmarschalls zurückgewiesen hatten und auf einer bedingungslosen Kapitulation bestanden. »Deshalb müssen wir bedingungslos weiterkämpfen, bis zu einem gerechten Frieden.« Vom Endsieg keine Rede mehr, dafür von einem Frieden, bei dem Deutschland ein Wörtchen mitzureden habe. Drohungen von Feldmarschall Milch, dem neuen Chef der Luftwaffe: Es werden keine Bomber mehr gebaut, dafür Jäger und neuartige Luftabwehrwaffen. »Der Himmel über Deutschland wird zum Friedhof für die amerikanischen und englischen Bomber.« Karl Dönitz überzeugte die Leser oder nur sich selbst davon, dass der Kampf im Atlantik sich bald zu Deutschlands Gunsten wenden werde. Neuartige U-Boote, die nicht mehr geortet werden könnten, aber überlegene Funkmessgeräte besäßen, würden mit elektroakustischen Torpedos Angst und Schrecken verbreiten und den Nachschub nach England und Russland unterbinden. Sie taten alle so, als setzte der »Heldentod des Führers« neue Kräfte frei.
Irgendwann wird das Gerücht durchsickern, dass Hitler durch einen deutschen Offizier getötet wurde. BBC wird es melden oder Radio Moskau, dann werden die Deutschen wissen wollen, was wirklich geschehen ist. Warum hat man nicht gleich die Wahrheit
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