Der 26. Stock
flüchtig und schaltete ihren PC ein, um alles für das erste Bewerbungsgespräch des Tages vorzubereiten. Im Posteingang
fand sie eine externe Nachricht – von Hugo. Hastig klickte Isabel auf Öffnen. Bestimmt hatte Hugo ihre nächtlichen Anrufe
gesehen. Etwas musste passiert sein, wenn er sie nicht zurückgerufen hatte.
Isabel, ich habe gesehen, dass du angerufen hast. Ich sitze gerade in einem Internetcafé. Wenn ich mit dieser Mail fertig
bin,fahre ich heim und hole meine Sachen. Ruf mich nicht mehr auf dem Handy an, ich habe es nicht mehr. Es ist so viel passiert,
Isabel, und ich fürchte, dass es mich als Nächsten trifft. Ich verstecke mich an einem sicheren Ort. Ich hoffe, du verstehst
das. Ich setze mich wieder mit dir in Verbindung. Versuch, etwas herauszufinden. Ich glaube, dich haben sie nicht im Visier.
Meine Familie fehlt mir. Wenn ich nur wieder mit ihr zusammen sein könnte.
Heute Morgen wollte ich übrigens Cassandra in der Klinik besuchen. Sie ist nicht mehr dort. Jemand, den die Firma geschickt
hatte, kam sie gestern abholen. Wer, wollten sie mir nicht sagen. Aber früher oder später werde ich es erfahren. Ich hoffe,
dass es dann nicht zu spät ist. Gebe Gott, dass es nicht so kommt. Bleib dran, Isabel, ich werde dir helfen, so gut ich kann.
Bis bald.
Hugo
Isabel starrte auf den Bildschirm, als hätte sie gerade ein Gespenst gesehen. Es war unvermeidlich. Sie konnte Hugo keinen
Vorwurf machen, dass er sich versteckte. Sie hätte am liebsten das Gleiche getan. Und vielleicht hätte sie es vor ein paar
Tagen auch tun sollen. Jetzt konnte sie nicht mehr – nicht, bevor sie ihren Bruder gefunden hatte. Cassandra war also verschwunden.
Sie hatten sie abgeholt. Isabel atmete tief durch und fühlte sich einige Augenblicke lang furchtbar einsam. Dann hörte sie
ihre eigene Stimme, wie sie über die Sprechanlage den ersten Bewerber hereinbat. Seit Tagen war sie außerstande, den Ausführungen
ihrer Gesprächspartner zu folgen. Mechanisch stellte sie ihre Fragen und wartete dann, bis der jeweilige Bewerber sich müde
geredet hatte; hier und da schnappte sie ein paar Sätze auf. In der Pause griff Isabel zum Telefon. Gerard hatte ihr versprochen,
dass er sich melden würde, und sie hatte noch immer nichts von ihm gehört.
»Personalabteilung, guten Tag.«
Einen Moment lang dachte Isabel, sie hätte die falsche Durchwahl erwischt. Anstelle des freundlichen Tons, den sie erwartet
hatte, hörte sie die barsche Stimme einer ihr unbekannten Frau. Sie warf einen Blick aufs Display des Telefons. Doch, sie
hatte richtig gewählt. Vielleicht war Gerard einen Kaffee trinken gegangen.
»Guten Tag, ich möchte mit Gerard sprechen, ist er da?«
»Nein, ist er nicht.« Isabel hielt den Atem an. »Er ist seit heute morgen in einer anderen Abteilung in einem höheren Stockwerk.«
Isabel schloss die Augen. Nach oben versetzt. Sie hatte so etwas befürchtet. Ohne zu überlegen, erkundigte sie sich nach der
Etage, auf die Gerard versetzt worden sei. Am anderen Ende der Leitung herrschte ein paar Sekunden lang Stille.
»Bedaure«, sagte die Frau dann kühl, »das ist eine vertrauliche Information. Wenn Sie das wissen wollen, müssen Sie mir eine
Bevollmächtigung seitens ihres Abteilungsleiters vorlegen …«
Isabel legte den Hörer auf. Von dieser Frau würde sie nichts erfahren, und von Gerard wohl leider auch nicht. Vielleicht würde
er sich von seiner neuen Stelle aus melden. Vorerst blieb ihr nur, abzuwarten und die nächste Bewerberin zu interviewen.
Es handelte sich um eine vierzigjährige Frau, geschieden, kinderlos. Isabel fühlte sich stark an Vera erinnert, obwohl die
Familienverhältnisse anders waren. Na ja, Vera hatte oft gesagt, der Tod ihres Mannes sei eine unwiderrufliche Scheidung gewesen,
ein Geschenk der guten Herzfehler-Fee. Doch nicht deshalb verlief das Gespräch mit dieser Kandidatin nicht so wie mit den
bisherigen. Eine ganz andere Feststellung sollte das Interview für Isabel zu einer nicht enden wollenden Qual machen. Weil
sie diese Frau interessant fand, wollte Isabel sich diesmal ernsthaft Notizen machen. Während ihre Gesprächspartnerin redete,
beugte sie sich vor, um eines ihrer kleinen Notizbücher aus der unteren Schublade zu nehmen. Sie runzelte die Stirn. Was war
denn das? In der Schublade lag ein zerknitterter blauer Stoff. Sie konnte sich nicht entsinnen, ihn dort hineingelegt zu haben.
Die Kandidatin bemerkte
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