Der 26. Stock
beiden die Nächstensein würden. Vera machte einen Schritt nach vorne. Noch einmal rief sie seinen Namen. Nichts. Sie hielt den Atem an. Sie blickte
sich nach einem schweren Gegenstand um und entdeckte eine leere Glasflasche, die auf dem Nachttisch stand. Sie griff danach,
zählte bis drei und riss die Tür auf, bereit, ihm die Flasche über den Schädel zu ziehen. Die Frau im Bad schrie auf, als
sie Vera sah.
»Um Himmels willen!« Vera stellte die Flasche auf den Boden und umarmte die andere. »Entschuldige bitte, ich dachte …«
Cassandra starrte sie noch immer entsetzt und verständnislos an. Auf der kleinen Ablage am Waschbecken lagen Pflaster, Mull
und Desinfektionsmittel, die sie am Vortag kurz nach ihrer Entlassung aus der Klinik gekauft hatte. Sie hatte nur ihren Verband
wechseln wollen, und Vera hätte ihr beinahe die Flasche auf dem Kopf zerschlagen. Sie hatte nicht einmal nachgesehen, ob sie
noch im Bett lag. Sie war sicher gewesen, dass er das war.
»Mama, was ist los?«
Clara stand in der Tür und sah die beiden Frauen mit angsterfüllten Augen an. Ihre kleine Schwester drängte sich an ihr vorbei.
Vera beruhigte die beiden, während sie Cassandra die beiden Verbände erneuerte und ihr half, sich hinzulegen. Cassandras Ohren
waren noch nicht wiederhergestellt. Der Arzt in der Klinik hatte Vera erklärt, ihre Freundin habe keinen dauerhaften Schaden
erlitten, werde jedoch noch einige Tage brauchen, bis sie Geräusche wahrnehmen konnte.
»Sie werden jetzt abgeholt«, hatte der Arzt geschrieben.
Vera hatte das Zimmer betreten und Cass war auf sie zugelaufen und hatte sie lange umarmt. Gemeinsam hatten sie das Gebäude
so unauffällig wie möglich verlassen. Dann waren sie in den Wagen gestiegen, und Vera war stadtauswärts gefahren. Cass gestikulierte
und hielt ihr die kleine Plastikschreibtafel hin, die der Arzt ihr gegeben hatte, doch Vera schenkte ihr keine Beachtung.
Sie hatte ihre Töchter im Motel gelassen und wollte so schnell wie möglich zurück. Außerdem musste sie sich darauf konzentrieren,
ob sie verfolgt wurden. Nachdem sie das Motelerreicht hatten und Vera sichergegangen war, dass ihren Töchtern nichts zugestoßen war, nahm sie die Schreibtafel und setzte
Cass Stück für Stück über die Ereignisse ins Bild.
»Ein Mann verfolgt uns, er will uns etwas antun«, schrieb sie.
Cass fragte, wer das sei, aber Vera zuckte nur die Achseln. Ihr schien das nicht der passende Moment, um ihr die Wahrheit
zu erzählen. Cass fragte nicht weiter nach. Sie versprach, ihr und den Kindern zu helfen, so gut sie konnte. Vera fühlte sich
nun etwas weniger allein, obwohl sie wusste, dass eine taube Frau unter den gegebenen Umständen eher einen Klotz am Bein darstellte
als eine große Hilfe. Trotzdem freute sie sich, Cass an ihrer Seite zu wissen.
Veras Töchter schienen sich auf das Frühstück in der Stadt zu freuen. Während Vera die schmutzige Wäsche und den Rest ihres
kümmerlichen Gepäcks in die Koffer stopfte, dankte sie Gott dafür, dass sich ihre Töchter nach allem, was sie durchgestanden
hatten, noch immer für etwas begeistern konnten.
»Ich bring das Gepäck runter«, sagte Cassandra.
Vera legte ihr die Autoschlüssel in die Hand. Dann ging sie ins Bad, schloss die Tür und sah in den Spiegel. Sie hatte dunkle
Ringe unter den Augen und sah fürchterlich aus. Sie wusch sich das Gesicht mit eiskaltem Wasser.
»Clara, hast du nachgesehen, ob ihr auch nichts vergessen habt?«, fragte sie, während sie den Wasserhahn zudrehte und sich
mit einem kleinen weißen Handtuch abtrocknete. Clara antwortete nicht. Vera zog die Badezimmertür einen Spalt auf. Das Zimmer
war leer, die Zimmertür stand offen. »Clara? Ana?«
Keine Spur von den beiden. Veras Herz schlug schwer, dennoch versuchte sie, sich nicht verrückt zu machen. Bestimmt hatten
die Mädchen Cass geholfen, die Koffer nach unten zu bringen. In ein paar Minuten würden sie diesen Ort hinter sich gelassen
haben. Sie trat ans Bett und schüttelte das Bettzeug aus, um sicherzugehen, dass die Mädchen nichts vergessen hatten. Dann
sah sie auch noch im Schrank und zuletzt unter dem Bett nach. Als sie sich bückte, lächelte ihr das blaue Plüschpferd mit
den beidenFlügelchen am Rücken entgegen. Señor Pegasus war das einzige Spielzeug, das Ana mitgenommen hatte. Vera zog das Plüschtier
unter dem Bett hervor, sah sich ein letztes Mal um, trat hinaus auf den Flur und zog die Tür
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