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Der 26. Stock

Titel: Der 26. Stock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Enrique Cortés
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Anfangs hatte sie noch erwogen, die Polizei zu rufen, doch
     sie wusste, dass das nichts gebracht hätte, selbst wenn die Beamten sie ernst genommen hätten. Dennoch, es mussteeinen Ausweg geben, eine Lösung, die der Hetzjagd ein Ende bereiten und ihr erlauben würde, wieder ruhig zu schlafen. Bis
     dahin musste sie abwechselnd mit Clara Wache halten, damit er sie nicht wehrlos im Schlaf überraschte. Er würde sie sonst
     alle drei umbringen.
    Vera öffnete die Eingangstür des Motels. Es war etwas kälter als am Vortag, doch der Wind hatte sich gelegt. Sie atmete tief
     durch. Sie mochte den Geruch nach Regen. Sie drehte sich um und warf dem schlafenden Motelbesitzer einen Blick zu. Den würde
     in den nächsten Minuten nicht einmal ein Erdbeben wecken.
    Sie trat ins Freie und ging zur Rückseite des Gebäudes. Alles schien ruhig zu sein. Den Erfahrungen der letzten Tage nach
     fehlte wohl noch eine halbe Stunde, dann würden die ersten Motelgäste aufwachen, in ihre Autos und Lkws steigen und ihren
     Weg fortsetzen. Vera zündete sich eine Zigarette an und spürte, wie ihr die ersten Regentropfen aufs Haar fielen. Wie lang
     würde das noch so gehen? Geld war kein Problem, sie konnte noch etliche Motels bezahlen, aber die Schlaflosigkeit und das
     plötzliche Herzrasen konnte sie nicht viel länger ertragen. Während der feine Nieselregen die Zigarette durchnässte, die zwischen
     ihren Fingern zitterte, wurde ihr klar, dass sie ihre Lektion gelernt hatte. Von der Rückseite des Motels aus hatte man eine
     wunderbare Aussicht, doch das genügte nicht, um Vera vergessen zu lassen.
    Am ersten Tag war er nach Mitternacht gekommen, kurz nachdem Alberto gefahren war. Sie war ins Haus gegangen, durchs Foyer,
     hatte den Aufzug genommen, die Wohnungstür aufgesperrt und   … Vera schüttelte heftig den Kopf. Sie wollte nicht daran denken. Sie trank den letzten Schluck Kaffee und ließ den Becher
     auf dem Boden stehen. In den darauf folgenden Tagen war er mal mitten in der Nacht, mal kurz vor Tagesanbruch, mit den ersten
     Sonnenstrahlen gekommen, unabhängig davon, wie weit sie sich entfernten, ob sie auf ihn warteten oder nicht. Wenn sie schon
     dachten, dass er ausbleiben würde, war er da. Vera zog ein letztes Mal an ihrer Zigarette. Sie hatte die halbeNacht nicht geschlafen – seit Clara sie geweckt und sich hingelegt hatte. Sie legte die Hände vors Gesicht. Sie hätte ihr
     Leben dafür gegeben, endlich ausruhen zu können.
    In diesem Moment hörte sie die Eingangstür aufgehen. Sie hielt den Atem an und lief um das Gebäude herum. Sie hatte kein Auto
     kommen hören. Erleichtert stellte sie fest, dass ein Mann über den Asphaltstreifen auf seinen Lkw zuging. Eigentlich war er
     noch ein Junge, kaum achtzehn Jahre alt, mit einer gefütterten Weste und einer auffälligen Kappe auf dem Kopf. Er stieg ins
     Führerhäuschen und ließ den Motor an. Vera atmete durch. Sie sah auf die Uhr. Lange konnte es nicht mehr dauern, bis er da
     war. Sie würde eine letzte Zigarette rauchen, ihre Töchter wecken und mit ihnen in die Stadt fahren. Vera ging wieder zur
     Rückseite des Gebäudes und blieb wie angewurzelt stehen. Jemand hatte den Plastikbecher, den sie zurückgelassen hatte, zertrampelt.
     Sie sah am Motel hoch. Das Fenster ihres Badezimmers stand offen. Vera begriff augenblicklich und rannte los. Sie stürmte
     durch den Eingangsbereich und so schnell sie konnte die Treppe hinauf. Hektisch kramte sie in ihrer Handtasche nach dem Zimmerschlüssel.
     Sie hatte die beiden eingesperrt. Mit zitternden Händen gelang es ihr, den Schlüssel ins Schloss zu stecken. Als sie endlich
     die Tür aufbekam, beruhigte sie sich. Die beiden lagen friedlich im Bett. Allerdings blieb ihr keine Zeit zum Nachdenken,
     denn schon vernahm sie ein Geräusch aus dem Bad. Sie fuhr herum. Die Tür war angelehnt. Sie war ihm zuvorgekommen, aber wie
     sollte sie ihm entgegentreten? Am liebsten hätte sie geschrien, ihre Töchter gepackt und Reißaus genommen, doch etwas zog
     sie zu der Tür hin. Sie rief ihn beim Namen. Sie wusste, dass er antworten würde. Ja, er würde antworten, und dann würde er
     versuchen, sie zu töten. Aber es kam keine Antwort. Er blieb hinter der Tür und sie hörte immer noch dasselbe merkwürdige
     Geräusch. Vera hatte keine Zeit zu fliehen, und sie fühlte sich auch nicht mehr dazu in der Lage. Sobald sie sich umdrehte,
     würde er die Tür aufreißen. Sie würde ihre Töchter ansehen und wissen, dass die

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