Der 26. Stock
ihr in die Hand. Wunden oder Blut
waren nicht zu sehen, aber in Veras Händen schlug ihr Herz und mühte sich weiter, sie am Leben zu erhalten. Vera ertrug den
schrecklichen Anblick des eigenen Herzens nicht und fiel in Ohnmacht. Stille. Bevor sie die Augen wieder aufschlug, spürte
sie, dass sie ertrank. Die Waage und die Dunkelheit waren fort. Sie schwebte aufrecht im Wasser, Dutzende von Metern unter
der Oberfläche. Um sie herum tänzelte die Meeresvegetation mit Schwärmen kleiner Fische um die Wette. Vera achtete nicht darauf.
Sie wusste, dass sie sterben würde, wenn es ihr nicht gelang, Luft in die Lungen zu bekommen. Die Arme bewegen konnte sie
nicht. Sie versuchte, sich an die Oberfläche zu schlängeln, aber sie fühlte sich zu schwer. Sie wollte schon aufgeben, da
hörte sie ein merkwürdiges Geräusch, das immer näher kam. Es glich einer Schiffssirene. Ihr Körper wurde von einer warmen
Strömung erfasst. Sie drehte sich um und sah nur wenige Meter entfernt ein riesiges Meerestier, das sich rasch näherte. Sie
dachte schon, es würde sein Maul aufreißen und sie verschlingen, doch als es auf ihrer Höhe war, machte es einen Schlenker
in die Tiefe. Dann spürte sie, wie eine gewaltige Kraft sie zur Wasseroberfläche schob. Sie riss den Mund auf, in der Hoffnung,
einen tiefen Atemzug machen zu können, merkte aber, dass nichts mehr war wie zuvor. Sie rief nach Isabel. Ihr Ruf war wie
ein alter, weiser Gesang, den nur die Wale verstanden. Sie versuchte, aus den Äuglein an den Seiten ihres breiten Schädels
einen Blick auf sichselbst zu erhaschen, fand jedoch keine Spur von ihrem früheren menschlichen Wesen wieder. Weinen konnte sie auch nicht mehr.
In diesem Moment spürte sie am Rücken, wie der erste Stachel ihr durch die Haut ins Fleisch drang. Sie schüttelte sich heftig
und fuhr herum. Was war das? Vor ihr rannten zwölf Männer mit orientalischen Gesichtszügen über das Deck eines großen weißen
Bootes und machten die nächste Harpune bereit. Ein Schrei aus der Kehle eines Mannes, der offenbar der Kapitän war, und die
Waffe flog auf Veras Kopf zu. Sie versuchte es mit einer plötzlichen Ausweichbewegung, war aber noch nicht an ihre neuen Körperformen
gewöhnt. Diesmal war der Schmerz von einer seltsamen Trägheit begleitet, und sie verlor einen Teil ihrer Sehkraft, gerade
so, als wäre es in ihrem von einem spitzen, scharfen Metallstück durchbohrten Hirn zu einer Art Kurzschluss gekommen. Sie
erwog, sich sinken zu lassen und in die Tiefe zu verschwinden, doch es war zu spät. Abermals ein bohrender Schmerz, und sie
sah überhaupt nichts mehr. Sie hatte keine Kraft mehr zum Atmen. Nicht einmal die Sterne würden ihren Tod über den Wellen
des Ozeans beweinen.
»Hältst du dich für unschuldig?«, fragte eine tiefe, fast kehlige Stimme.
Vera machte die Augen auf. Sofort sah sie, dass die Umgebung sich radikal verändert hatte. An die Stelle des Wasserrauschens
war die Melodie des Windes getreten, der durch das Laubwerk der tausend Bäume ringsum fuhr. Über ihr ein endloser tiefblauer
Himmel. Die Sonne wärmte ihren Körper. Es war ein angenehmes Gefühl, mitten im Wald zu stehen. Da bemerkte sie ein plötzliches
Beben, als würde die gesamte Landschaft ihr zuwispern, dass etwas den Frieden dieses Ortes gestört hatte. Die Vögel stoben
auseinander. Unter ihr ertönte ein ohrenbetäubendes Fauchen, und wieder war da der Schmerz, ein unermesslicher Schmerz. Dutzende
scharfer Metallzähne bohrten sich ihr an den Knöcheln ins Fleisch. Sie versuchte zu fliehen, davonzulaufen,aber sie konnte sich nicht bewegen. Sie schrie, und ihr Schrei verwob sich mit dem Rascheln der Blätter im Wind. Als ihre
Füße vollständig abgetrennt waren, fiel sie krachend zu Boden. Auch das Holz, das ihre Arme und den Rumpf bedeckte, würde
bald zersägt und anschließend einer chemischen Behandlung unterzogen werden. Sie spürte, wie sich etwas in ihr löste und als
Harztropfen auf den grünen Waldboden fiel, um darin zu versickern. Es war ihr jahrhundertealtes Gedächtnis, das zu der Erde
zurückkehrte, der es entstammte. Sie schloss die Augen und starb ein zweites Mal.
»Hast du wirklich geglaubt, das alles sei nicht so wichtig, Vera?«, hallte die Stimme erneut durchs Dunkel. Vera konnte ihre
eigenen Hände nicht sehen, aber sie spürte, wie ihr Herz darin weiterpochte. »Hier geht es um Leid, Leid, das du mitverursacht
hast.«
»Aber …«
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